Die Schauspiel-Saison 2018/19 steht im Zeichen der Internationalität: vom „Europa Ensemble“ in Stuttgart bis hin zu Inszenierungen mit europäischen Urstoffen. Ein Ausblick
Dieser Trend ist erst wenige Jahre alt. Aber er wird immer deutlicher: Europa, also der heimische Kontinent und unsere kulturelle Heimat, auch die lange ignorierte politische Gegenwart und schließlich unsere ungewisse Zukunftshoffnung, Europa oder das Abendland treibt also die Schauspielhäuser um. Die Theater beschäftigen sich intensiv mit dem Kontinent, seinen zugrunde liegenden Mythen und den politischen Strukturen. Denn die viele Jahrzehnte selhabstverständliche institutionalisierte Einheit des Kontinents in Form der Europäischen Union ist bedroht; die Auslöser beziehungsweise Anzeichen dafür sind die Eurokrise, der geplante Austritt Großbritanniens, die Abwendung des wichtigsten globalen Verbündeten und die innere Zerrissenheit im Umgang mit in die EU drängenden Migranten. Die ungewöhnlich positive, eher durch Sorge als durch Ablehnung oder ironische Distanz gekennzeichnete Haltung der Schauspielhäuser spiegelt sich nicht nur in den Spielplänen, sondern auch in der personellen Zusammensetzung.
Europäisches Theater
Der neue Stuttgarter Schauspielchef Burkhard C. Kosminski plant im nächsten Jahr mit jeweils einem Theater aus Polen und einem aus Kroatien ein Europa Ensemble unter der künstlerischen Leitung des Regisseurs Oliver Frljic zu gründen. Am Berliner Maxim Gorki Theater gibt es bereits ein Exil-Ensemble. Und am Theater Freiburg arbeiten schon seit einem Jahr vor allem junge europäische Regisseurinnen und Regisseure; ebenfalls etabliert ist inzwischen am Staatsschauspiel Dresden das europäische Regiefestival Fast Forward, im Mai wird dort auch das 4. Europäische Bürgerbühnenfestival stattfinden.
In der kommenden Spielzeit sind zugleich viele Regisseurinnen und Regisseure aus östlichen Nachbarländern im Repertoire der deutschen Stadttheater tätig – keineswegs nur bei Festivals oder Gastspielen. Der in Ungarn zum Staatsfeind erklärte Árpád Schilling wird am Berliner Ensemble und in Dresden inszenieren; auch bei Oliver Frljic dürfte das verstärkte Engagement in Deutschland (in Hannover, Stuttgart und Köln) damit zusammenhängen, dass er in seiner Heimat Kroatien mit immer widrigeren Arbeitsbedingungen konfrontiert ist. Unter diesen Neulingen im deutschen Theater befinden sich auch zahlreiche Frauen: so die bereits in einigen Städten bekannte (und 2016 für den FAUST nominierte) Marta Górnicka, die mit ihrem chorischen Theater am Maxim Gorki Theater zum deutschen Nationalfeiertag das „Grundgesetz“ in Szene setzen wird. In Karlsruhe zeigt die slowakische Multimediakünstlerin Sláva Daubnerová Elfriede Jelineks „Am Königsweg“.
In einigen Fällen scheint sich hier die dauernde und immer ungeduldiger wirkende Suche der deutschen Theater nach neuen Regisseuren und vor allem Regisseurinnen mit dem künstlerischen Überlebenskampf in repressiven Heimatländern zu verbinden – und mit dem Thema Europa. Angesichts der für viele Künstler in Polen, Ungarn oder Kroatien existenziellen Krise ist das lange verschüttete Interesse am benachbarten Osten hierzulande jedenfalls deutlich stärker ausgeprägt als noch vor einigen Jahren.
Die Intensivierung der internationalen Kontakte erstreckt sich aber auch in den sehr nahen Westen. Am Theaterhaus Jena übernimmt das niederländische Schauspielerkollektiv Wunderbaum die Leitung des kleinen, aber spannenden Schauspielhauses. Auch das Schauspielhaus Bochum bekommt mit Johan Simons einen niederländischen Intendanten, der die Zusammenarbeit mit dem Nationaltheater im belgischen Gent intensivieren will, das zeitgleich vom – in Deutschland sehr präsenten – Schweizer Milo Rau übernommen wird. Rau wiederum ist an einem Projekt beteiligt, das vom 9. bis 11. November eine Europäische Republik ausrufen will: durch das Verlesen eines Manifests, das Rau zusammen mit Robert Menasse und Ulrike Guérot verfasst hat – und durch seine künstlerische Inszenierung. Die deutschen Stadttheater scheinen diesem Projekt gegenüber zurückhaltend zu sein, was auch mit Raus rhetorischem KZ-Vergleich-Fehltritt gegenüber den Stadttheatern beim diesjährigen Theatertreffen zu tun haben könnte. Dafür plant das Nationaltheater Weimar, das ja nicht nur für Theaterkunst, sondern auch für die erste demokratische Verfasssung in Deutschland steht, im Februar eine stark europäisch grundierte Woche der Demokratie. Dazu gehört das transnationale Projekt „Europe – eine Nationalversammlung“. Auch das Schauspiel Dortmund, das Badische Staatstheater in Karlsruhe und das Hamburger Thalia Theater zeigen schon im Titel erkennbare europäische Stücke und Projekte. Der EU-Roman „Die Hauptstadt“ vom Mitautor des Manifests zur Europäischen Republik, Robert Menasse, wird Anfang Oktober von Hermann Schmidt-Rahmer erstmals auf eine deutsche Bühne gebracht: am Essener Grillo-Theater.
Urstoffe, neu inszeniert
Europa spielt selbstverständlich nicht nur namentlich eine Rolle in den neuen Spielplänen. Allein im September fallen zahlreiche alte und neue Stücke auf, die eng mit unserer europäischen Kultur verbunden sind. So inszeniert Antú Romero Nunes am Hamburger Thalia Theater nach dem griechischen Mythos einen „Orpheus“, in dem es um die lebenserhaltende Kraft der Kunst geht. Auch Roland Schimmelpfennig ist mit seinem neuen Stück auf den Spuren einer antiken Figur, des ambivalenten Helden „Odysseus“; die Uraufführung wird von Tilmann Köhler am Staatsschauspiel Dresden inszeniert. In Augsburg ist die erste von fünf neuen „Orestie“-Inszenierungen zu sehen, in Stendal, Halle und Leipzig haben die ersten „Faust“-Inszenierungen der Saison Premiere. Eher mittelalterlich geprägt ist die Romanadaption „Tyll“ nach Daniel Kehlmanns Eulenspiegel-Roman am Schauspiel Köln. Milo Rau widmet sich in seiner ersten Genter Neuinszenierung in „Lam Gods“ dem Genter Altar aus dem 15. Jahrhundert und wird nach Märtyrern, Kreuzrittern und Heiligen damals wie heute fragen. Im Oktober geht es dann weiter mit großen Antikenprojekten: „Dionysos Stadt“ an den Münchner Kammerspielen und Simon Stones „Eine griechische Trilogie“ am Berliner Ensemble. In Freiburg inszeniert der slowenische Regisseur Jernej Lorenci „Das Nibelungenlied“, während die israelische Regisseurin Yael Ronen in den Münchner Kammerspielen die „Genesis“, also den Beginn des Alten Testaments in Szene setzen wird.
Auch „Nathan der Weise“, dieses deutsche Urstück abendländischer Konflikte, hat im September 2018 Premiere und zwar in Braunschweig, Bremen und Hannover; sowohl am Theater Bremen (Regie: Gintersdorfer/Klaßen) wie auch am Schauspiel Hannover (Regie: Oliver Frljic) dürfte die Herangehensweise stark multi-kulturell geprägt sein. Nun befinden sich gelungene Integration und respektvolles Miteinander spätestens seit der Causa Özil nicht unbedingt auf einem unaufhaltbaren Siegeszug. Gerade deshalb ist es wichtig, dass die Theater für Europa einen weiteren Horizont abstecken als den nach Amsterdam oder Warschau. Zur abendländischen Kultur gehört ganz ursprünglich der sogenannte Nahe Osten; neben Griechenland liegen die europäischen Wurzeln in der heutigen Türkei, im Gelobten Land, aber auch weiter im Osten, im Zweistromland und in Persien. Das Theater Erlangen zeigt die Uraufführung der Romanadaption „Golden House“ des indisch-britischen Autors Salman Rushdie, das Staatstheater Mainz eröffnet mit der deutschsprachigen Erstaufführung von Nassim Soleimanpours „Nassim“, und das Residenztheater in München bringt am 28. September die Premiere von „Ur“ auf die Bühne. Sulayman Al Bassams Stück beginnt in der gleichnamigen Stadt, aus der nicht nur Abraham gen Westen auszog, die vielmehr auch für ein immer wieder zerstörtes kulturelles Zentrum steht. Diese Inszenierung soll auf Deutsch und Arabisch gespielt werden, womit wir thematisch natürlich auch bei aktuellen Konflikten und der zunehmenden europäischen Abschottung gegenüber Migranten wären, die ein weiteres Dauerthema der Spielzeit darstellen werden.
Zwischenzeiten
Die Theater können eine Art Scharnier zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft darstellen. Und sie scheinen sich dieser Chance und ihrer Verantwortung sehr bewusst zu sein. Indem sie auf alte Stoffe und Mythen zurückgreifen, indem sie in Institutionen und Inszenierungen diverse Nationalitäten und Kulturen mischen. Und indem sie auffällig viele Projekte planen, die Zukunftsszenarien (teils Science-Fiction) mit dem historischen Blick zurück verbinden. Am Deutschen Theater fragt Andres Veiel „Welche Zukunft?!“. In Nürnberg arbeitet die geheimagentur am „Kabinett der vereinigten Vergangenheiten“, in Bochum kommt es im Mai zur Uraufführung von „2069 – Das Ende der Anderen“, in Dortmund spielt „Everything belongs to the Future“ von Laurie Penny noch ein paar Jahre später, nämlich im Jahr 2098, ein paar Jahre früher spielt „Dresden 2029?“. Diese Januar-Premiere am Staatsschauspiel Dresden in der Regie von Volker Lösch dürfte ein dystopischer Blick in die Zukunft werden. Und auch dieser Blick nach vorn ist vom Blick zurück nicht ablösbar.
Konstantin Küsperts Drama „europa verteidigen“ verbindet zahlreiche Elemente der neuen europäischen Theaterbewegung; es verbindet antiken Mythos mit aktuellen Stimmen, changiert zwischen den Zeiten. Und im Titel beschreibt es ziemlich klar die Grundtendenz vieler deutscher und europäischer Theatermacher. „europa verteidigen“ wird an drei Theatern (am Hans Otto Theater in Potsdam, am Rheinischen Landestheater Neuss und am Wolfgang Borchert Theater in Münster) neu inszeniert. Apropos neue Dramen: Einen bemerkenswerten Einstand mit gleich vier Premieren wird das neue Stück „Momentum“ der Niederländerin Lot Vekemans erleben. Auch hier geht es um das Ineinander verschiedener Zeiten und um den rechten Zeitpunkt, das Momentum: Ein Politikerehepaar gerät in eine berufliche wie private Krise; am Ende fordert die Frau, die jahrelang ihren Mann unterstützte, von ihm einen Rollenwechsel, mit offenem Ende. Die Gerechtigkeit zwischen den Geschlechtern ist auch ein Teil des europäischen Dramas.