"Falstaff" bei den Salzburger Festpielen 2013

Zwischen Traum und Wirklichkeit

Giuseppe Verdi: Falstaff

Theater:Salzburger Festspiele, Premiere:29.07.2013Regie:Damiano MichielettoMusikalische Leitung:Zubin Mehta

Ein Altenheim für mittellose Musiker, die „Casa di Riposo per musicisti“ – das wollte Giuseppe Verdi der Nachwelt schenken. Camillo Boito, der Bruder seines „Falstaff“-Librettisten Arrigo Boito, begann 1896, das repräsentative Backsteingebäude an der belebten Mailänder Piazza Buonarroti in neogotischem Stil zu bauen. Zur „Falstaff“-Uraufführung am 9. Februar 1893 in Mailand war es längst fertig. Allerdings wollte Verdi, dass es erst nach seinem Tod bezogen werden würde. Die „Falstaff“-Premiere der Salzburger Festspiele im Haus für Mozart beginnt mit einem Video, das dieses „Casa Verdi“ genannte Altenheim im Sommer 2013 zeigt. Man sieht den starken Verkehr und hört den Lärm der Stadt. Allmählich wird hinter der Leinwand der nachgebaute Aufenthaltsraum des Hauses sichtbar (Bühne: Paolo Fantin, Kostüme: Carla Teti). Ein Pianist spielt am Flügel einen langsamen Walzer. Die Hausbewohner haben es sich bequem gemacht. Auf der Couch liegt Ambrogio Maestri und schläft, bis er von einigen Gestalten, die durch das Fenster einsteigen, geweckt wird. Genau mit dem Aufschrecken des Sängers startet die Oper. Die kurzatmigen Phrasen des Beginns, die die Wiener Philharmoniker unter Zubin Mehta schön stolpern lassen, holen ihn wieder in die Wirklichkeit zurück.

Falstaff ist nicht Falstaff, sondern ein alt gewordener Opernsänger, der einmal diese Rolle gespielt hat und nun im Casa Verdi in Erinnerungen schwelgt – das Falstaff-Kostüm trägt er nur zum Schlussapplaus. Das ist die geniale Grundidee von Damiano Michielettos kluger wie leichter, tiefsinniger wie musikalischer Deutung von Giuseppe Verdis letzter Oper bei den Salzburger Festspielen. Er ergänzt die Komödie mit Melancholie und Tragik, die man durchaus im „Falstaff“ entdecken kann, wenn sich der Protagonist etwa zu Beginn des dritten Aktes seines Alters bewusst wird und unter seinem dicken Bauch leidet, den Ambrogio Maestri noch im ersten Akt kraftvoll als Lebenselixier besungen hat. Michieletto hält die Geschichte in der Schwebe zwischen Fiktion und Realität. „Ist es ein Traum? Oder ist es Wirklichkeit?“ fragt der kernige Bariton Massimo Cavalletti in der Rolle des Ford, als dieser im ersten Bild des zweiten Aktes inkognito bei Falstaff zu Gast ist. Auch das gesamte letzte Bild im nächtlichen Park erinnert an Traumsequenzen. Wenn sich hier, duftig begleitet von den Wiener Philharmonikern, Nannetta und Fenton finden und in schönsten Farben ihre junge Liebe besingen (eine echte Entdeckung: Eleonora Buratto und Javier Camarena), kommen auch in einer tief berührenden Szene die im Altersheim lebenden Paare zusammen und schmiegen sich aneinander. Falstaff wird in diesem Topfplanzenwald nicht wie im Libretto von der nächtlichen Gesellschaft gepiesackt, sondern durch Todesahnungen. Und ist Zeuge seiner eigenen Beerdigung.

Der Ensemblecharakter der Oper, in der keine einzige echte Arie gesungen wird, ist ebenfalls durch die Traumanordnung betont, weil häufig auch die Personen mit auf der Bühne sind, über die sich die anderen gerade das Maul zerreißen. Das Altersheim ist näher, wenn die Türen zum Speisesaal aufgehen und Pflegerinnen das Essen bringen. Es kann aber auch weit weg sein, wenn sich dieser Falstaff seine Opernwelt samt ihren Rollen herbeiträumt. Manches Mal vermischen sich auch die Ebenen. Mrs. Quickly, die vom sinnlichen, über eine satte Tiefe verfügenden Mezzosopran Elisabeth Kulmans erotisiert wird, mutiert zur sexy Krankenschwester, der Falstaff an die Wäsche geht. Ambrogio Maestri zeigt diesen alternden Don Giovanni in seiner ganzen Bandbreite zwischen Manie und Depression. Er wuchtet seinen mächtigen Bariton ins Falsett, um die Damen nachzuäffen. Oder spürt nochmals seine Manneskraft, wenn er seinen Kontrahenten Ford mit vollem Brustton gegen die Wand singt oder dessen Frau Alice, der Fiorenza Cedolins’ perfekt geführter Sopran Beweglichkeit und Intensität schenkt, mal kurz auf dem Flügel verführt. Auch Mrs. Meg Page (mit viel Fundament: Stephanie Houtzeel) ist nicht gefeit vor den Avancen des alternden Amors im Morgenmantel. Die Wiener Philharmoniker setzen unter Zubin Mehta die vielen Stimmungswechsel reaktionsschnell um und verzaubern mit edlen Hornsoli und kammermusikalischem Grundton. Nur wenn das Geschehen in den großen Ensembleszenen an Fahrt aufnimmt, klappert es gelegentlich zwischen Bühne und Orchestergraben. Zur berühmten Schlussfuge „Tutto nel mondo è burla“ (Alles in der Welt ist ein Scherz) tritt das Ensemble vor den Gazevorhang, auf dem der schlafende Sänger im Altersheim gezeigt wird. Seine Mitbewohner versuchen in dem Videofilm vergeblich, ihn aus seinem Operntraum aufzuwecken – ehe bei der letzten Generalpause der Vorhang fällt und man sich wieder im voll besetzten Aufenthaltsraum der Casa Verdi befindet. Die Erzählebenen werden brillant zusammengeführt. Ein grandioses Ende eines großartigen Musiktheaterabends der Salzburger Festspiele.