EIn Kämpfer wandelt sich zum Pazifisten: Simon Neal als General in Elisabeth Stöpplers Inszenierung.

Zuschauer in Geiselhaft

Hans Werner Henze: Wir erreichen den Fluss

Theater:Semperoper, Premiere:13.09.2012Regie:Elisabeth StöpplerMusikalische Leitung:Erik Nielsen

Keine Frage: Das Szenario, das sich beim Betreten des Auditoriums der Dresdner Semperoper bietet, ist ebenso überraschend wie eindrucksvoll: Rauchschwaden vernebeln die Ränge, Gitterstreben-Podeste, teils mehrstöckig, nehmen Bühne und Teile des Zuschauerraums ein, der Orchestergraben ist überbaut, und mitten durchs Parkett erstreckt sich ein breiter Steg, darauf ein zerfetzter Soldatenkörper. Einen Moment lang denkt man tatsächlich an die Gewalt und Zerstörung, die einst das Haus, die Stadt und ihre Bevölkerung erleiden mussten. Doch als sich an den Eingängen Soldaten zeigen, bis an die Zähne bewaffnet, und mit Rumms die Türen zuschlagen, als wären wir allen Ernstes Gefangene der Szenerie – da hat uns die Theaterwelt auch schon wieder, und wir schauen neugierig auf die drei Orchestergruppen, die größte leicht versenkt in der Bühnenmitte, eine auf einem hohen Podest weit hinten, die dritte auf der Stellage rechts vor der Proszeniumsloge, während die Mittelloge von einer Schlagwerkbatterie mit Beschlag belegt wurde. Wir sind beruhigt: Hier gilt’s der Kunst und nicht dem Krieg.

Das Theater aber tat sich noch nie ganz leicht damit, die Schrecken des Krieges zu simulieren. Schon gar nicht, wenn es das mit so bieder-realistischen Mitteln versucht wie Elisabeth Stöppler in ihrer Inszenierung von Hans Werner Henzes Antikriegs-Opernfanal „Wir erreichen den Fluss“: ein Monumentalwerk der Oper des 20. Jahrhunderts, mit dem das traditionsreiche Haus an der Elbe durchaus mutig die Saison eröffnete. Dieser Mut trägt noch die Handschrift der unlängst so tragisch früh verstorbenen Intendantin Ulrike Hessler, diese Eröffnungsproduktion wurde zudem umrahmt von weiteren Aufführungen und Konzerten mit Werken des Altmeisters, der dem Haus schon seit jenen Zeiten verbunden ist, als er noch ein junger Wilder war. Und man wünschte sich, dass auch die junge Regisseurin dieses Auftakts ein bisschen wilder, vor allem aber konzeptionell ein bisschen radikaler zu Werke gegangen wäre.

So so: Wir Zuschauer sollen also in Geiselhaft genommen sein von dieser Soldateska, die, vom Kostümbildner Frank Lichtenberg in Kampfmontur gesteckt und mit Schießgewehren bestückt, auf den drei Simultanbühnen und anderswo herumrennt, in Schächerpose droht, auf Opfer anlegt? Wir wären damit Leidensgenossen jener Damen und Herren in schimmernder Robe und dunklem Frack, die bei Henzes Librettisten Edward Bond eigentlich in durchaus freiwilliger Begeisterung dem General die Ehre des Siegers erweisen, die Stöppler aber nun umfunktioniert zu Opernsängerinnen und -sängern, denen die Soldaten die Huldigungsgesänge brutal abpressen? Aber warum dürfen wir dann hübsch entspannt auf unseren Polstersitzen bleiben, während die Sänger geschunden und angekettet werden? Warum dürfen einige der Zuschauer völlig unbehelligt entfliehen, wohl weniger vor Stöpplers Theatersoldateska als vor den Klangattacken von Henzes Musik, derer sie sich an diesem ehrwürdigen Orte offenbar nicht versehen hatten? Natürlich steht das Theater immer vor der Frage, wie weit es gehen darf, wenn es die Zuschauer zu Mitspielern macht. Aber man muss nur für einen Moment an Benedikt von Peters grandioses „Intolleranza“-Happening an der Staatsoper Hannover denken, für das er im vergangenen Jahr den FAUST bekommen hat, um zu erkennen, wie halbherzig Stöppler in dieser Hinsicht bleibt. All das Waffengefuchtel im Soldatenrock und Leiden in Abendgarderobe – es müffelt einschläfernd nach Fundus. Stöppler will den Zuschauern den Pelz waschen; aber niemand wird nass dabei.

Aber nicht nur in den theatralen Mitteln, auch konzeptionell steht die Inszenierung seltsam quer zu den Intentionen des Werkes. Bei Henze und Bond sind Krieg und Gewalt ein skandalöser Weltzustand, den sie anprangern, wobei ihnen das Schicksal eines Generals als dramaturgisches Vehikel dient. Anfangs ein routinierter Profi des Schlachtens, wird er sehend für das Leid der Opfer, nachdem ein Arzt ihm die baldige Erblindung attestiert hat. Er fällt aus seiner Generalsrolle und wird ins Irrenhaus gesteckt, die Aufständischen machen ihn ohne sein Zutun zum Helden der Revolution, der Kaiser lässt ihn blenden, die Irren bringen ihn um: ein trostloses Panorama der allgemeinen Gewalt und Verrohung.

An der dramaturgischen Tragfähigkeit dieser seltsamen Saulus-Paulus-Wandlung eines Kriegsprofis mag man zweifeln und überhaupt die ganz Geschichte für ein bisschen arg Anekdoten-plauschig halten – unzweifelhaft aber ist, dass Grausamkeit hier nicht das Geschäft verbrecherischer Marodeure ist, sondern Kollateralschaden einer Gesellschaft, für die der Krieg ein legitimes Mittel der Interessendurchsetzung ist. Folglich sind jene Repräsentanten der etablierten High Society, die Stöppler zu geschundenen Opernsängern macht, im Stück nicht etwa Opfer der Soldaten, sondern ihre Gesinnungsgenossen („patriotische Töchter der Nation“, heißt das an einer Stelle). Wenn Stöppler die Soldaten nun zu illegitimen Aggressoren der etablierten Kultur und Gesellschaft und deren Exponenten zu ihren Opfern und Geiseln macht – tja, dann müsste sie eigentlich eilends die GSG 9 bestellen, auf dass die dem Spuk ein Ende mache. Was natürlich eine arg staatsfromme Umdeutung von Henzes und Bonds Fanal gegen militärische Gewalt wäre. Bei Stöppler ist die Kunst ganz schön brav geworden.

Wobei man nicht in Abrede stellen muss, dass ihr Sinne und Auffassungsgabe schier überforderndes Simultan-Aktions-Szenario starke Bilder liefert. Nur eben dass das Ganze spürbar unter dem Widerspruch zwischen prätendierter Brisanz und faktischer Theaterbetulichkeit leidet. Und auch Henzes Musik ist nicht frei von einer Diskrepanz zwischen Aufwand und Wirkung. Natürlich hat das Neben- und Nacheinander der Orchestergruppen, hat der filigrane Farbenreichtum der durchweg solistisch geführten Instrumentalstimmen seinen Reiz. Aber vieles in all dem Allusions-Reichtum von U-Musik über Choralandacht bis zu fernöstlicher Exotik wirkt eher bunt als zwingend. Der musikalischen Ausführung jedenfalls dürfte dieser Eindruck nicht zuzurechnen sein. Dirigent Erik Nielsen ist nicht nur ein nervenstarker Koordinator, sondern auch ein vitaler musikalischer Animator, der die Valeurs dieser Musik empathisch und mit viel Sinn für divergente Stilfacetten Klang werden lässt.

Zudem hat er mit dem englischen Bariton Simon Neal als General einen Protagonisten, der vokale Kultur, Durchsetzungsvermögen und Ausdruckskraft auf einen idealen Nenner bringt. Ihm zur Seite John Packard als vokal agiler Gouverneur, Timothy Oliver als wunderbar tenorschlanker, höhenklarer Attentäter, Vanessa Goikoetxea als lyrisch beseelte Junge Frau, Iris Vermillion als glühend kraftvolle Alte Frau, Tilmann Rönnebeck als bass-sonorer Adjutant, Gerd Vogel als edel und voll klingender Arzt, Romy Petrick als koloratur-exaltierte Rachel, Anke Vondung als schlanke, bronzeglänzende Kaiserin – bis in kleine Rollen (Rainer Maria Röhr als bühnenpräsenter und höhensicherer 1. Soldat, Ingeborg Schöpf als sopranleuchtende 1. Dame und 3. Wahnsinnige) ist das Riesenensemble bemerkenswert gut durchbesetzt. Am Ende Jubel – und wahre Ovationen für den anwesenden Komponisten.