Foto: Ensembleszene © Klaus Lefebvre
Text:Guido Krawinkel, am 25. März 2017
Die Bühne ist leer. Nichts. Eine riesige abschüssige Fläche. Völlig leer. Der nackte Bühnenraum dahinter sieht nicht besser aus. Allgemeine Ödnis überall: schmucklos, lieblos, trostlos. Nur das kunterbunt durcheinander gewürfelte Instrumentarium für die Bühnenmusik, das im Orchestergraben des Wuppertaler Opernhauses aufgebaut ist, verschafft dem Auge des Betrachters etwas Abwechslung.
Es ist diese allgemeine Leere, die zunächst einmal skeptisch stimmt. Besonders einladend ist der erste Eindruck jedenfalls nicht. Doch was nach einem knochentrockenen und moralinsauren Lehrstück aussieht, erweist sich am Ende als ebenso spannender wie unterhaltsamer Theaterabend. Und als lehrreicher obendrein, denn es ist immer wieder erstaunlich, wie ungeheuer hellsichtig und geradezu entlarvend Brecht die Auswüchse des modernen Kapitalismus mit seiner irrwitzigen Geldspirale vorhergesagt hat.
„Der gute Mensch von Sezuan“ wird im Wuppertaler Opernhaus von Maik Priebe auf das Wesentliche reduziert. Statt Kulissen gibt es im Bühnenbild von Susanne Maier-Staufen nur besagte Fläche und sparsamst eingesetzte Requisiten. Der Fokus liegt ganz auf den Akteuren, die – in manchen Szenen verstärkt durch einen aus Tänzern bestehenden und von Silvia Zygouris choreografierten „Bewegungschor“ – immer wieder temporeich über die Bühne wirbeln, auch mal als knallbunte Partygesellschaft oder in Stomp/Martial-Arts-Manier.
Und manchmal wird an der Rampe eben auch das Publikum belehrt, wie sich das so gehört bei einem richtigen Lehrstück. Das bleibt aber eher die Ausnahme bei diesem trotz der großen Leere auf der Bühne und der stattlichen Länge von brutto gut drei Stunden insgesamt doch recht kurzweiligen Abend. Die Bühnenmusik von Stefan Leibold gibt dem ganzen Abend zudem einen strukturierenden Rahmen. Stahlfedern, Loops und präparierte Instrumente sind die Ingredienzien, mit denen er auch die Originalmusik von Paul Dessau aufhübscht – mit dem Segen von dessen Sohn übrigens.
Dass der Abend insgesamt so kurzweilig ist, liegt nicht zuletzt an den Schauspielern, die Brechts Parabel über das Gutmenschentum mit großartigem Nachdruck spielen. Stefan Walz als verzweifelter Wasserverkäufer Wang und vor allem Lena Vogt als gutmeinende Shen Te bzw. hartherziger Shui Ta, die nicht erst bei ihrem Monolog am Schluss zu wirklich großer Form aufläuft, geben ihren Figuren persönliche Konturen und machen diesen Abend insgesamt ungemein eindrucksvoll und auch bewegend. Das trifft auf das gesamte Ensemble zu, das trotz der nicht immer zuverlässig funktionierenden Tontechnik im Wuppertaler Opernhaus mit größtem Nachdruck spielt.
Ein überrumpelnder Überraschungsangriff des Regisseurs erfolgt am Schluss. Da mischen sich die Schauspieler unter das Publikum, klagen die allein und verloren auf der Bühne stehende Shen Te aus der Position des Publikums an und symbolisieren damit den notwendigen Transfer vom bloß belehrenden, an sein Publikum appellierenden Lehrstück hin zum gesellschaftsverändernden Impetus des Theaters. Die Botschaft wird durch diesen genialen Kniff lebendig, aus dem passiven Publikum wird ein aktiver Akteur. Der vielleicht eindrucksvollste Moment des Abends.
Am Ende bleibt bei Brecht nur Ernüchterung. Die „Götter“ haben versagt. Bei Priebe treten die vermeintlichen Heilsbringer so eitel und geleckt auf wie Immobilienhaie oder Börsengurus: völlig frei von Selbstzweifeln und mit einer Arroganz der Heilsgewißheit, die an Verblendung grenzt. Dem von Brecht apostrophierten Bankrott der Menschlichkeit haben sie nichts entgegenzusetzen und bis zum Ende wollen sie nicht wahrhaben, dass sie gescheitert sind. Sie gehen „zurück ins Nichts“. Am Ende bekommt das Publikum ein kleines Stück Papier, giftgrün, auf dem Brechts Epilog geschrieben steht. Eine kleine Erinnerung, ein winziger Stachel. Ist vielleicht doch noch nicht alles zu spät? Es liegt an uns, an jedem einzelnen.