Wiebke Mollenhauer und Benjamin LIllie in der Zürcher „Möwe“

Möwe auf Probe

Anton Tschechow: Die Möwe

Theater:Schauspielhaus Zürich, Premiere:22.12.2023Regie:Christopher Rüping

Christopher Rüping inszeniert in seiner letzten Arbeit als Hausregisseur am Schauspielhaus Zürich Tschechows „Die Möwe“. Im Pfauen entsteht ein virtuoses Spiel um Liebe und Menschendarstellung, das wenig theatrale Erfüllung bietet.

Am Ende geht der Mond auf, riesig auf der Rückseite der Bühne. Hunderte Leuchtstoffröhren, die in einem großen Halbkreis angeordnet sind, leuchten auf die Bühne und in den Zuschauerraum hinein (Bühne: Jonathan Mertz, Licht: Gerhard Patzelt). Wie Schatten sitzen die übriggebliebenen Figuren am Tisch mit der Glücksspielmaschine, einen Vorhang gibt es nicht, die Fragen bleiben am Ende ans Publikum zurückgespielt.

Ensemble auf der Suche nach seinen Rollen

Zum Start drei Stunden zuvor sitzen die sieben Darsteller:innen auf Bänkchen im Hintergrund; Steven Sowah beschreibt mit der Regieanweisung für die erste Szene die Situation, bevor er als der perspektivlose Lehrer Medwedenko mit der resignierten Mascha (Ann Ayano) einen Dialog beginnt. Das Spiel wirkt hier und in der Folge improvisiert, die Rollen bleiben Skizzen. Rüping und sein eingespieltes Ensemble nehmen die ersten Szenen des Stücks insofern wörtlich, als hier wie dort auf den Beginn der Vorstellung gewartet wird. Kostja/Benjamin Lillie wartet sehnsüchtig auf seine (einzige) Hauptdarstellerin Nina (Wiebke Mollenhauer); seine Mutter, die sofort übertrieben groß aufspielende Arkadina (Maja Beckmann) und der meist stumme, ehrwürdige Dichter Trigorin (Moses Leo) werden in die erste Reihe des Parketts platziert, damit Nina schließlich den dystopischen Monolog Kostjas vortragen kann.

Dies gelingt ihr in aller Nüchternheit beeindruckend, nur die egozentrische Arkadina, Kostjas Mutter und Trigorins Geliebte, hadert mit ihrer Zuschauerinnenrolle. Während Maja Beckmann bei aller Genauigkeit das wenig komplexe Bild einer Frau zeichnet, die im Mittelpunkt (der Bühne) stehen will und keinerlei Sensibilität ihrem Sohn gegenüber entwickelt und während Moses Leos stoischer Trigorin lange durch noble Zurückhaltung glänzt, zeigen Wiebke Mollenhauer und Benjamin Lillie vielschichtige Figuren zwischen suchender:m Schauspieler:in, übertrieben agierender und nach Liebe (bei dem ehrwürdigen Dichter bzw. bei Nina) suchender Gestalt. Nina himmelt im Wissen um ihre Reize den Dichter im Parkett an und lässt sich zugleich von der kratzbürstigen Arkadina nicht aus der Ruhe bringen. Kostja schwankt zwischen unpassend theatralischem Einsatz für neue Formen der Kunst und der Suche nach Liebe bei Nina wie bei der unerreichbaren Mutter.

Schlüssig und etwas trocken

Konzeptionell ist es schlüssig, wie die Inszenierung im in die Jahre gekommenen Schauspielhaus die Generationenkonflikte durch ein fast gleichaltriges mittelaltes Ensemble durchspielt, das die Suche nach Liebe und Anerkennung im Theater und der Literatur mit der „menschlichen“ Ebene verbindet. Lena Schwarz spielt wunderbar komisch als weiblich besetzte Tante Sorina die Erinnerung an gute alte Theaterzeiten (in Zürich) mit. Und doch bleiben die Figuren weitgehend Konstruktionen, ist das virtuos und ironisch ausgespielte Infragestellen der Menschendarstellung nur in kurzen Momenten bei Lillie und Mollenhauer auch emotionales Ereignis.

Kostja erschießt sich nicht am Ende, vielmehr spielt das Ensemble den Selbsttötungsversuch immer wieder durch, wobei der stille Dichter und die outrierte Diva ebenso vergeblich einen Schlussstrich per Pistole versuchen wie Kostja. Nina ist bei ihrer kurzen Rückkehr keine tragisch gescheiterte Frau, sondern eine konzentrierte Realistin, die ihr Bekenntnis zum „Aushalten“ des Lebens durch einen „Cliffhanger“ hinauszögert – sie muss erstmal zur Toilette.

Tschechows „Möwe“ handelt zwar von Kunst und Generationenkonflikten, ist aber im Kern eine Komödie der verletztlichen menschlichen Eitelkeiten. Nicht umsonst wird das Stück voll unerfüllter Liebe immer wieder neu inszeniert und ist als Graphic Drama in der jüngsten Ausgabe der jungen bühne erschienen. Prägend waren für den – auch nicht mehr ganz jungen – Autor dieses Textes Jürgen Goschs Inszenierung von 2008 und Árpád Schillings Budapester Inszenierung von 2003. In beiden Fällen entwickelten sich die Figuren auch langsam in großer Nähe zum Publikum; ihre konstruierte theatrale Existenz wurde dann jedoch mitreißend real. Das fragende Spiel in Rüpings Inszenierung erreicht nicht diese Intensität, verharrt eher bei der Suche nach dem wahren Gefühl. Das ist komisch, ein wenig gewollt wie beim installativen Mond am Ende und zugleich in seiner Offenheit mutig.