Szene aus „LIB” von Alexander Ekman

Zotteltanz und Finsternis

Alexander Ekman / Sharon Eyal: Lib / Stronger

Theater:Staatsoper Unter den Linden, Premiere:08.12.2019 (UA)

Das Problem eines konventionellen Ballettabends ist stets seine Dramaturgie. Wenn anstatt eines abendfüllenden Werks mehrere kleinteilige Produktionen zusammengefasst werden, wirkt dies oft nummernrevueartig und willkürlich. Bei „Ekman/Eyal”, dem neuesten – extrem kurzen – Appetithappen des in diesem Jahr zur Kompagnie des Jahres gekürten Berliner Staatsballetts hat man sich programmatisch für eine schematische Zweiteilung entschieden: Während Alexander Ekmans „Lib” die Körper und Persönlichkeiten der vier ersten Solistinnen Elisa Carrillo Cabrera, Aurora Dickie, Ksenia Ovsyanick und Polina Semionova feiert, kommen in Sharon Eyals „Strong” der Corps de Ballet, die Gruppe, das Kollektiv zu ihrem Recht. Wo sich „Lib” bunt, ironisch und verspielt gibt, fährt „Strong” in strengen Grautönen die schweren Geschütze von Drama und Überwältigungsästhetik auf.

Alles beginnt mit einem Haufen Haare. Während das Publikum in der Staatsoper Unter den Linden noch bei eingeschaltetem Saallicht nach seinen Plätzen sucht, wandelt eine Gestalt durch das Parkett, die man als Zuschauer weiß Gott nicht vor sich sitzen haben möchte: Ein undefinierbarer Fremder in Anzug und Krawatte, dessen Kopf und Gesicht unter einem Stapel von Perücken verschwinden, der sichtbehindernd meterhoch in die Höhe ragt. Als der haarige Eindringling schließlich auf die Bühne steigt, gibt er damit das Signal für die vier Solistinnen. Bei nach wie vor eingeschaltetem Saallicht und vor einer Dudelsaxofon-Klangkulisse betreten nacheinander Ovsyanick, Cabrera, Dickie und Semionova auf gefährlich hoher Spitze den Raum und folgen dabei stets einem nahezu identischen Ritual: Sie bemessen die eigenen endlos langen Arme und Beine werfen sich in leicht verzerrte Model-Posen und dehnen ihre Körper im Stehen und am Boden mit Bewegungsabläufen irgendwo zwischen Zeitlupen-Voguing, Ballettroutine und Pilates.

Jede der vier entfaltet dabei unterschiedliche Qualitäten. Ksenia Ovsyanicks makellose erdverbundene Kraft, Elisa Carrilo Cabreras elegantes Fließen, Aurora Dickies ätherische Zurückgenommenheit und Polina Semionovas unnachahmliche Mischung aus Zerbrechlichkeit und stählerner Disziplin wirken zunächst ausgestellt wie in einem Bildband über zeitgenössisches Ballett. Alle vier tragen hautfarbene Bodys und treten alsbald in eine Art Wettstreit miteinander. Abwechselnd und in Zweikombinationen entspinnt sich eine Art Battle der Ballerinen, in dem sich Glieder ineinander verschlingen, Beine bis zum Anschlag gedehnt werden und Spitzenschuhe wie Messer durch die Luft fahren und krachend auf den Boden schlagen. Die ersten zehn Minuten von Ekmans „Lib” sind eine schöne Hommage an das Divendasein zwischen Anmut und Härte – und mit einem angenehmen Schuss Selbstironie. Wenn auf den Rücken jahrelang trainierte Muskelstränge hervortreten, werden Gedanken an die bedrohlichen Tanzamazonen wahr, die der Kanadier Edouard Lock 20 Jahre lang mit seinen Lalala Human Steps durch die Tanzsäle dieser Welt jagte. Das unterkühlte Augenzwinkern unter höchster Technikbeherrschung erinnert an William Forsythes „The Second Detail”, das das Staatsballett seit mehreren Monaten bravourös im Rahmen eines anderen Mehrteiler-Abends präsentiert.

Leider hat der Rest des kurzen Stückes diesem vielversprechenden Anfang nur wenig hinzuzufügen. Zunehmend gestört durch einen ekstatisch zuckenden Tänzer in Ganzkörperperücke (Johnny Mac Millan) lösen sich die vier Damen bald aus ihrem Wettbewerb, schlüpfen ihrerseits in zottige Kostüme und rennen und springen zu klassischen Rocksongs quasi-befreit über die Bühne. Laut Programmheft steht der Titel „Lib” für die Befreiung von Konventionen, doch unterläuft dem Stück in seinen letzten zwei Dritteln das komplette Gegenteil. So bemüht werden die Register eines postmodernen Meta-Tanzabends aus den 90ern gezogen – kryptische Projektionen von Schlagwörtern wie „YES”, „NO”, „OK”, Anlehnung an die Chorus Line der als seicht verschrieenen Musicalästhetik und Zitate aus Rock- und Popkultur -, dass sich schnell ein schaler Geschmack von Unentschiedenheit einstellt. Auch die Perückenkostüme des Haarkünstlers Charlie Le Mindu, die wohl die Befreiung von Zuschreibungen transportieren sollen und eigentlich im Mittelpunkt des Abends stehen, bekommen keine wirkliche Funktion. Sie verbergen die Tänzerinnen lediglich, ohne jedoch eine spezifische Bewegungssprache – mit dem Ergebnis, dass alle vier großartigen Solistinnen hier hoffnungslos unterfordert wirken.

ÜBER-Forderung ist dagegen das systematische Programm des zweiten Teils des Abends. Auf einer leeren Bühne, unter stimmungsvollem Einsatz von Trockeneis und Alon Cohens Lichtkreationen zwischen Rockkonzert und expressionischem Stummfilm, zelebriert die Israelin Sharon Eyal 45 Minuten lang einen Hochdruck-Totentanz mit angezogener Handbremse. Wie ihr international ebenso erfolgreicher Landsmann Hofesh Shechter entstammt Eyal der legendären Batsheva Company des Choreographen-Genies Ohad Naharin, dessen Assistentin sie auch jahrelang war. Die Prägung hierdurch ist unübersehbar: die Spannung zwischen Kollektiv und Individuum, analytischem Umgang mit Raum und Gruppenkonstellationen und dem Spiel mit der Ekstase findet sich sowohl bei Shechter als auch bei Eyal. Während jedoch Shechter mit Humor arbeitet und seine Protagonistinen wie postapokalyptische Stammeskrieger oft auch in Slaptick-Situationen bringt, hat sich seine Kollegin einer Ernsthaftigkeit verschrieben, die in „Strong“ manchmal zur Masche verkommt.

In einer Monochromästhetik, die oftmals gefährlich mit der Ikonografie einer Leni Riefenstahl flirtet, hetzt sie ein 17-köpfiges Kollektiv durch ein Gruppenritual irgendwo zwischen Trauer, Widerstand und Zombieshow. Hände werden expressiv abgespreizt, Gesichter schmerzverzerrt verzogen – alles wirkt dringlich und bedeutsam, und bleibt gleichzeitig seltsam leer und unverbindlich. Extrem effizient und zu einem physischen Erlebnis wird Eyals Arbeit jedoch durch den Soundtrack des israelischen Technopioniers Ori Lichtik. Treibende Beats, grollende Bässe und immer wieder auch orientalisierende Einsprengsel von Oud und perkussiven Instrumenten, können den Tänzern und dem Publikum keine Verschnaufpause. Genauso wie Eyals Choreografie stets Spannung aufbaut, ohne sie jemals ekstatisch zu entladen, dreht Lichtik akkustisch stets weiter am Regler des Erträglichen. Das ist beeindruckend und von einer Wirkung, der man sich kaum entziehen kann. Als die 45 Minuten schließlich mit Entspannung und Stille enden, fühlt man sich ein wenig manipuliert von diesem Lehrstück der Überwältigungsästhetik.

Insgesamt ist „Ekman/Eyal” kein wirklich großer Abend im Repertoire des Staatsballetts, doch immerhin ein verdienstvoller Versuch, die unterschiedlichsten ästhetischen Wege zu erproben.