Szene aus "A Clockwork Orange"

Zeitlos, aber nicht zeitgemäß

Anthony Burgess: Clockwork Orange

Theater:Berliner Ensemble, Premiere:14.01.2023Vorlage:nach dem gleichnamigen RomanRegie:Tilo NestKomponist(in):Michael Haves

Es ist nicht das erste Mal, dass das Leitungsteam von Oliver Reese dem Berliner Publikum einen Stoff anbietet, den sie am Schauspiel Frankfurt bereits auf dem Spielplan hatten. Dort adaptierte Christopher Rüping 2016 „A Clockwork Orange“ spektakulär und raffiniert im Bockenheimer Depot, einem ehemaligen Straßenbahnlager. In Rüpings anatomischem Theater verteilten sich die Schauspieler im gesamten Raum und machten die gewalttätige (Be-)Drohung allgegenwärtig und somit zur latenten Grundstimmung. Nun nehmen sich Tilo Nest und fünf fortgeschrittene Schauspielstudierende der Hochschule für Schauspielkunst Ernst Busch Burgess‘ 60 Jahre alten Kultromans an.

„What’s it going to be then, eh?“ – Der berühmte, so verhängnisvolle erste Satz wird an diesem Abend wiederholt, herausfordernd hervorgestoßen, kraftvoll gepresst und künstlich gedehnt: Marc Benner, Anna Köllner, Maeve Metelka, Leonard Pfeiffer und Laura Talenti scheinen sprech-, aber auch gesangstechnisch in ihrem Element. In ihren giftgrünen, bemützten Ganzkörperneonanzügen mit den langen, abnehmbaren, lustig zuckelnden Ohren (Kostüm: Esther von der Decken) nutzen sie ihre Schwarm-Energie, bewegen sich synchron, sprechen und singen chorisch, intonieren a cappella Beethovens Neunte und anderes. Zerfließende Schminke in Schwarz und Weiß verteilt sich von der Stirn bis zum Kinn. Die beschmierten Clowns, hier machen sie sich auf zu ihren nächsten Schandtaten und verbergen dabei ihre wahren Gesichter.

Das ist schade, denn die würde man allzu gerne besser sehen, wenigstens einmal, wenigstens kurz. Hinter den grässlichen Masken nämlich spielen sich schauspielerisch faszinierende Kämpfe ab. Doch das Ensemble treibt die handlungs- und wendungsreiche Geschichte des jugendlichen Gewalttäters Alex unablässig voran, mimt seine Gang, seine ‚Droogs‘, die verzweifelten Eltern und, mit einem schnellen Umschlag der Mützenohren, Vertreter der staatlichen Autorität. Souverän bewältigen die fünf die Textmasse und eignen sich die von Burgess erschaffene Kunstsprache Nadsat gekonnt an. Englischen und russischen Ausdrücken entlehnt, changiert die charismatische Sprache zwischen den mächtigen politischen Sprachen ihrer Entstehungszeit. Kaum zu glauben, dass Nadsat ihrerzeit einen derartigen Eindruck auf die Jugendkultur machte; heute erklärt sich ihr Reiz besonders durch die pathetischen, biblisch anmutenden („O meine Brüder“) und humoristischen Ausdrucksweisen („horrorshow“, „tolschocken“, „Gulliver“), die auch der BE-Inszenierung ihren Witz verleihen.

Stanley Kubricks legendäre Filmadaption (1971) gab dem artifiziellen Nadsat-Sound im Bewegtbild einen ebensolchen Look. Das Regieteam um den BE-Ensembleschauspieler Tilo Nest, der regelmäßig auch inszeniert, hat diese schrille Abstraktheit beibehalten: Weiße Plane umschließen die Bühnenfläche im Neuen Haus (Bühne: Bernhard Siegl), über der schwarze Gummigebilde hängen. Knapp zwanzig Gummireifen säumen schon bald den Bühnenboden und dienen fortan als Sitzgelegenheit und Autoreifen, als Gefängnis und Mauer und umfassen schützend diejenigen, denen einer der stroboskopbegleiteten Gewaltexzesse gilt. Das Licht (Rainer Casper, Benjamin Schwigon) wechselt zwischen knalligen Blau- oder Rot- und dezenteren Tönen und setzt die kostümierten Darsteller:innen so in ein grelles Neongrün oder unscheinbares Grau. Wie im Roman, der nur Hinweise auf ein sozialistisches Gemeinwesen gibt, bleibt der Ort dieser dystopischen Zukunft systematisch unterbestimmt.

Große Fragen der Moral

In diesem Umfeld verbleibt die Inszenierung, ohne größere Brüche, von denen es in der Handlung doch so viele gibt: Nachdem der unberechenbare, erst 15-jährige Anführer Alex von seiner prügelnden und vergewaltigenden Gruppe an die Polizei verraten wird und sich wegen Mords im Gefängnis wiederfindet, verhält er sich wie ein Mustergefangener und unterzieht sich der neuen Ludovico-Technik, die nach einem nur zweiwöchigen ‚Programm‘ die Entlassung in die Freiheit verspricht. Also wird Alex vermeintlich zum Gutsein konditioniert, der Anblick von oder bloße Gedanke an Gewalt lösen bei ihm ab sofort krampfende Übelkeit aus. Nur dass die Ausrottung des Gewalttriebs versehentlich auch die des Schönen einschloss. So wird der, dem jeder moralische Kompass fehlte, der sich zu Beethovens 9. Sinfonie an Gewaltfantasien berauschte, zum Opfer, zum Spielball politischer Interessen. Er wird entscheidungsunfähig und wehrlos: „If a man cannot choose he ceases to be man“, kommentiert der Gefängnispfarrer. Bis ein Selbstmordversuch ihn wieder zu seinem Selbst führt.

Es ist, als hätten sich all die ethischen Fragen nach dem menschlichen Wesen und Sein in Burgess‘ politisch angehauchter Science Fiction auf einmal versammelt. Fragen nach der Moral, die es erlaubt, zwischen Gut und Böse zu unterscheiden, und nach der Entscheidungsfreiheit, dem einen oder dem anderen entsprechend handeln zu können, mit all seinen haarsträubenden Konsequenzen. Fragen nach dem Ursprung und den Formen von Gewalt, nach ihrer Zirkulation und Ritualisierung. Nach der Funktionalisierung des unliebsamen Bürgers zu einem „Uhrwerk“ und ihrer (De-)Legitimität, der daraus folgenden Täter-Opfer-Umkehr. Fragen nach Jugend und Erwachsenwerden, nach Autorität und der Macht des (strafenden) Staates, gut ein Jahrzehnt vor Foucaults Durchbruch.

Und doch mildern die Kunstsprache und abstrakten Darstellungsweisen die Brutalität, verharmlosen sie und verhindern, dass es mal richtig schmerzhaft und konkret wird. Die Auseinandersetzung mit dem Gewaltthema erscheint daher nicht wirklich geschärft, eine Positionierung mit ästhetischen Mitteln oder Fremdtexten wird vermieden. Auch das Forschen nach dem allgemeinen menschlichen Sein, wie es in der abendländischen Philosophie und christlichen Vorstellungswelt traditionell angesagt ist, kann heute kaum noch unkommentiert bleiben, geschweige denn zu einem befriedigenden Ergebnis führen. Zu heterogen sind die Ausgangsbedingungen, zu abhängig von gesellschaftlichen Umfeldern und Prägungen, zu ungleich die Chancen. Wenn auch nicht von vornherein determiniert, ist das Feld der (Entscheidungs-)Freiheit doch gravierend vorgeformt. Das Zeitlose ist eben nicht zwangsläufig auch zeitgemäß.