Wilhelm (Sebastian Schiller) jagt den Hirsch (Gloria Iberl-Thieme)

Wild durch die Sparten

Tom Waits, William S. Burroughs, Robert Wilson: The Black Rider

Theater:Musiktheater im Revier, Premiere:19.09.2020Vorlage:GespensterbuchAutor(in) der Vorlage:August ApelRegie:Astrid GriesbachMusikalische Leitung:Heribert Feckler

Ein echtes Corona-Therapeutikum: Laut, wild, grob, bunt, oft hemmungslos; mit Masken und Puppen, mit Bühnenbild und Projektionen und sogar mit Pause! Weil das Hygienekonzept weniger als 200 Besucher zulässt (die beim Schlussapplaus nach deutlich mehr klingen) und das MiR eben dieses wunderschöne, riesige, gläserne Foyer hat, durch das auch die doppelte Anzahl mühelos unter Einhaltung der Abstandsregeln flanieren könnte.

Vor allem an kleineren und mittleren Häusern ist „Black Rider“ beliebt. Die Musik swingt, die Songs zünden, die Orchesterbesetzung, in Gelsenkirchen spielen wie bei der Uraufführungsproduktion neun Musikerinnen und Musiker, ist leistbar – gerade mit Abstandsregeln. Dazu ist die Geschichte nach Adolf Apels „Gespensterbuch“, die bekanntlich auch Webers „Freischütz“ zugrunde liegt, nicht eben überkomplex und erzählt sich fast von selbst. Vor allem aber ist man hier nie in der Gefahr eines abzubilden: Normalität. Dafür sind vor allem die rauschhaft verknappten und verwinkelten Texte von William S. Burroughs verantwortlich.

In Gelsenkirchen ist der Teufel Pegleg, zu Deutsch „Stelzfuß“, eine Puppe und hat ein fünfköpfiges „Team“ um sich. Auch die Eltern, die unbedingt wollen, dass das in der Schreiber Wilhelm verliebte Käthchen einen Jäger heiratet, sind Puppen, genauso wie der ausersehene Bräutigam. Dazwischen steht – als einzige „richtige“ Menschen – das Liebespaar. Mit dieser Setzung begründet die im Puppentheater sehr etablierte Regisseurin Astrid Griesbach das Scheitern (Wilhelm wird Käthchen im Wahn erschießen). Es fehlt an Widerstandskraft, an eigener Ideologie, vor allem daran, sich mit der Kraft der nach innen so leidenschaftlichen Liebe nach außen neu zu etablieren. Oder die Verhältnisse sind einfach so.

Lisette Schürer hat eine sehr klare Kulissenbühne gebaut, nicht verschnörkelt, aber barocken gedacht. Immer wieder werden merkwürdige Objekte hinein gefahren: Ein weißes Pferd, überdimensionierte Kasperltheater, eine Miniaturdrehbühne oder, vor der Pause, ein Podest, auf dem „Tixe“ steht, also Ausgang andersherum. Dazu werden Schilder durchs Bild gehalten und Schriftzüge gezeigt, die hübsch anzusehen sind, aber oft nicht klar dechiffrierbar. In der Optik der Gelsenkirchener Inszenierung haben sowohl die Hamburger Uraufführungsinszenierung von 1990 als auch Michael Simons kühler Dortmunder Drogenrausch fünf Jahre später Spuren hinterlassen. Robert Wilsons Farbfelder und Ästhetik der bemalten Gesichter ist genauso präsent wie Simons sich psychedelisch drehende Schießscheiben. Die Hamburger Überhöhung in eine, manchmal überraschend niedliche, Kunstwelt findet sich genauso wieder wie die oft brutalen und sehr deutschen Parodien aus Dortmund.

Und dennoch findet Astrid Griesbach einen eigenen Weg, eine eigene Ästhetik, mit Anleihen bei Circus und Volkstheater, mit choreographischen, aber auch rhetorischen Elementen. Ein Beispiel: Wilhelm hat, angeleitet vom Teufelchen, die Fähigkeit zu jagen in sich gefunden und erschießt Tiere wie im Rausch. Bei Wilson lagen seinerzeit riesige Kunstkadaver ohne Haut herum. Bei Simon drehten sich die Schießscheiben noch schneller, waberte der Nebel noch stärker, war ein beängstigend realistisch aussehendes gehäutetes Kaninchen zu sehen – und einige Leichen. Bei Griesbach liegt Wilhelm inmitten einer Requisitenhalde, zwischen den Plüschtieren, die er abgeschossen hat, den umgekippten Riesenrosen, die eine Liebesszene bebildert hatten und den Poolnudeln, mit denen das Teufelsteam zuvor den Sound für die Schüsse erzeugt hatte. Ein Bild des Jammers – und des Witzes. Der hätte in der Gelsenkirchener Inszenierung schon etwas häufiger aufleuchten dürfen, am liebsten so wie in der Szene, in der ein Hirsch die Jagd-Unfähigkeit des armen Wilhelm verspottet, indem es sich einen Riesenapfel zwischen die Geweihschaufeln legt.

Dieser „Black Rider“ ist eine relativ kurzfristig aus dem Boden gestampfte Produktion. Über das Förderprojekt Neue Wege des Landes Nordrhein-Westfalen ist das MiR bekanntlich zu einer Puppentheatersparte gekommen, deren Start aber durch die Pandemie eingefroren wurde. Deshalb sollen in dieser Spielzeit die Puppen verstärkt zum Zuge kommen. Und wohl auch deshalb ist die Besetzung so heterogen. Das einzige reguläre Musiktheater-Ensemblemitglied ist Joachim G. Maaß. Und der hat in erster Linie eine Sprechrolle. Auf verschiedenen Fahrrädern durchmisst er als Vorfahr und Chronist immer wieder die Bühne. Wenn er singt, singt er bildschön, auch im Sattel. Das Käthchen, Annika Firley, ist eine waschechte Musical-Darstellerin, ihr Wilhelm Sebastian Schiller vor allem Tänzer und Musiker, der hier auch hinreißend singende Säge spielt. Käthchens Vater wird von dem Schauspieler Merten Schroedter verkörpert, seine Frau von Gloria Iberl-Thieme, der Leiterin der neuen Puppentheatersparte und ein echtes Gesangstalent. Daniel Jeroma schließlich muss als Pegleg und Wunschbräutigam Puppen- und Schauspieler sein. Und ist es einfach.

Das alles führt dazu, dass gesanglich nicht alles auf einem Niveau oder auch nur in einem Stil, manches ungeschliffen oder auch etwas blass daher kommt. Was aber kaum etwas ausmacht. Weil Heribert Feckler, der musikalische Leiter der Produktion, sich der Herausforderung stellt, mit diesen ungewöhnlichen Impulsen von der Bühne bewusst umzugehen. Bei ihm hört man nicht nur den vertrauten, ins Phantastische gewendeten Waits-Sound, sondern auch dies und das und alles Mögliche, Folk Song und Jazz und Kirchenlied. Das postmoderne Fundament scheint hier genauso durch wie in den schmucklos servierten rhetorisch abgedrehten, handlungsfernen Textpassagen. Besonders der Hemingway-Monolog von Merten Schroedter belebt die suchtgeschwängerte, aus der Beat Generation gewachsene, aggressive Melancholie von Burroughs auf kraftvolle und doch sehr heutige Weise.

So ist also dieser „Black Rider“, dieses nicht mehr spartenübergreifende, sondern fast schon spartenlose Theater, trotz leerem, überaktivem Gewusel an manchen Stellen, trotz Problemen in der Klanggestaltung und obwohl die großen Bilder im großen Saal des MIR vielleicht doch nicht immer groß genug sind – gelungen. Vor allem aber: unserer Zeit angemessen!