Foto: A Year without Summer von Florentina Holzinger mit Born in Flamez, otay onii, Sue Shay und Luz de Luna Duran © Mayra Wallraff
Text:Barbara Behrendt, am 22. Mai 2025
Die Radikal-Performerin Florentina Holzinger hat mit „A Year without Summer“ ein neues Stück über Selbstoptimierung, Schöpferdrang und die Frage nach ewigem Leben inszeniert. Nachdenklicher und poetischer als bislang.
In der Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz schweben Nebelwolken über der Bühne. Bilder von dunklen Aschewolken ziehen über Video-Leinwände. Und man mag es kaum glauben: Eine Performerin tritt nicht etwa nackt (der übliche Dress-Code bei Florentina Holzinger), sondern in voller Bekleidung auf die Bühne. 1816, erklärt sie, verdunkelte ein Vulkanausbruch mit Aschewolken die Sonne, als Jahr ohne Sommer ging es in die Geschichte ein. Die Autorin Mary Shelley ließ sich durch die düsteren, kalten Monate damals dazu verleiten, die berühmteste Spukgeschichte der Welt zu schreiben: Frankenstein. Was, fragt die Performerin, würden wir heute tun in so einem „year without summer“, wenn die Apokalypse droht?
Lust-Orgie jenseits der 80
Uns gemeinsam aneinander wärmen vielleicht, einen letzten Moment lang? Das jedenfalls suggerieren die nächsten Szenen. Leise und poetisch tanzen Frauen zwischen etwa 65 und 85, für diese Inszenierung gecastet, zu sanfter Musik über die Bühne, ebenfalls bekleidet. Bis sich die jungen Performerinnen unter sie mischen, sich langsam gegenseitig ausziehen – bis sie schließlich alle nackt am Boden ihrer körperlichen Lust nachgehen, sich zum Orgasmus treiben. Es ist eine der schönsten Seherfahrungen des Abends: die nackten alten weiblichen Körper, die hier ganz selbstverständlich einen großen Raum für Sinnlichkeit und Begehren erhalten. Ein zärtliches feministisches Empowerment jenseits der 80.
Doch das große Spektakel, die Holzinger-Unterhaltungsshow mit Selbstverletzungen, Akrobatik, Hanging und großen Schauwerten lässt nicht lange auf sich warten. Wie Mary Shelley möchte das Ensemble ebenfalls Kunst erschaffen – besser gesagt: Kunst gebären. Und so schauen wir bald einer stöhnenden Florentina Holzinger in den Wehen zu, die schließlich, wie einst Odysseus den Dionysos, einen Embryo aus ihrem Oberschenkel gebiert. Soll heißen: Eine kleine Embryo-Figur, vorab in ihren Oberschenkel genäht, wird in filmischer Großaufnahme herausoperiert. Was die ersten Ohnmachten im Publikum mit sich bringt.

Bärbel Warneke, Renée Eigendorff, Brigitte Ulm und Susan Wilkinson-Hiller in „A Year without Summer“. Foto: Mayra Wallraff
Eine Geburt aus dem Oberschenkel
Geboren wird kein Junge, kein Mädchen, sondern: „It’s a Musical!“ Das dionysische Fest also. Und so werden auf der Bühne Musical-Hits gesungen und komödiantische Spielszenen verwoben, die lose um ähnliche Themen kreisen: die Suche nach Unsterblichkeit, körperliche Selbstoptimierung, medizinischer und technologischer Fortschritt als die Erschaffung neuer Monster.
Der männliche Wissenschaftler tritt als Inbegriff des Bösen auf: Dr. Mengele, der brutale Auschwitz-Arzt, begibt sich in einen Wettstreit mit dem rassistischen Anatomie-Forscher Dr. Cuvier. Und natürlich bekommt auch Sigmund Freud sein Fett weg. Als in hohem Bogen ejakulierender Forscher, der feuchte Träume von seiner Mutter hat, dichtet er aus eigener Kastrationsangst der jungen Frau mit geöffneter Vulva vor sich Penisneid und Hysterie an.
Die Selbstoptimierung wird mit dem „ultimativen Facelift“ auf die Spitze getrieben: Eine Performerin zieht ihren Körper mit Fischerhaken in Augenbrauen und Wangen in die Höhe.

Ensembleszene in „A Year without Summer“. Foto: Nicole Marianna Wytyczak
Kack-Orgie im Pflegeheim
Doch die größte Zumutung dieses Abends bleibt das demonstrative Ausstellen des Alters. Eine Pflegeheim-Szene, in der die jungen Performerinnen sich rührend um die alten Frauen kümmern, endet in einer Kack-Orgie mit auslaufenden Windeln und Fontänen von brauner Brühe, die über die Bühne schießen, als würden sich die menschlichen Schleusen nie wieder schließen wollen. Das ist mit viel Ironie inszeniert – vor allem, als die Performerinnen im Anschluss mit einem soften Klassiker die allesentscheidende Frage stellen: „Who wants to live forever?“ Denn wer weiß, ob das ewige Leben nicht ein ewiges Dahinsiechen wäre…
Darüber hinaus ist der Unterhaltungswert groß: Die Performerinnen betreten durch die Vulva einer gigantischen Gummi-Frau die Bühne, Roboter-Vierbeiner heulen wie Höllenhunde, Frauen fallen in den Tod und stehen (mithilfe von Trampolinen) wieder auf.
Die schönsten Momente sind die poetischen und nachdenklichen. Der Auftritt der früheren Ballerina Beatrice Cordua, heute 82 Jahre alt, im Rollstuhl und an Lungenkrebs erkrankt. Holzingers Monolog, als sie von einem früheren Bühnenunfall erzählt, ein Sturz aus sieben Metern Höhe, der sie das Leben hätte kosten können. Und schließlich: die Eisläuferin, die auf dem Dach eines gläsernen Bühnenhauses Pirouette um Pirouette dreht – bis weit über den Schlussapplaus, bis zum Tod, bis in alle Ewigkeit. „No End“ steht über der Bühne.