Detektivische Spurensuche in Konstanz

Wettlauf gegen die Zeit

Philipp J. Ehmann: Generation Extinction

Theater:Junges Theater Konstanz, Premiere:27.09.2020 (UA)Regie:Philipp J. Ehmann

Immersive Theaterprojekte haben oft etwas von einer Schnitzeljagd: Da wird man durch die Stadt geschickt, um an verschiedenen Örtlichkeiten Teile zu suchen und zu einem Puzzle zusammenzufügen. Einer der Spezialisten für diese theatralische Form ist der Linzer Philipp J. Ehmann, der nun mit „Generation Extinction“ am Jungen Theater Konstanz zeigt, welche spielerischen Möglichkeiten sich ergeben, wenn man ein großes Thema hat und nicht gleich alle Informationen zu einer Geschichte herausrückt. Aus diesen Bausteinen können in sechs installativ eingerichteten Räumen die Teilnehmer dann eigene Geschichten generieren. Wobei der Titel selbst schon einen wichtigen Hinweis gibt: „Extinction“ meint die „Auslöschung“ des Lebens auf unserem Planeten – eine Bedrohung, gegen die insbesondere die junge Generation zu kämpfen hat, um sich und künftigen Generationen eine Zukunft zu verschaffen. Mit anderen Worten: Es geht um die nahende Klimakatastrophe.

Wenn sich im Foyer der Werkstattbühne die sechs Teilnehmer der Gruppe sammeln, wird ihnen erst einmal eingeschärft, aufmerksam zu sein, auf jedes Detail zu achten, auf der Rückseite von Fotos nach Texten zu schauen etc. Man darf alles in die Hand zu nehmen (man trägt Handschuhe und wird nach jeder Station reichlich mit Desinfektionsmittel versorgt), Schränke öffnen, Tagebücher lesen. Auf einem Tisch liegen Familienfotos, glückliche Bilder. Ausgangspunkt der Geschichte ist, dass die Mutter sich sorgt, weil ihre Tochter Miriam verschwunden ist. Die sechs Teilnehmer machen sich nun auf die Suche nach Miriam, ausgestattet mit einem kleinen Radio, das erst dann senden wird, wenn man die dazugehörige Codenummer vor Ort gefunden hat.

Gleich an der ersten Station, dem Jugendzimmer der jungen Frau, finden sich viele Spuren. Ein Plakat von „Twin Peaks“, das später noch einmal auftaucht, hängt an der Wand, Miesmuscheln, die sich auch an anderen Orten wieder finden, zieren das Bord, ein Tagebuch liegt auf dem nicht gemachten Bett. Eine Schublade ist verschlossen, der Schlüssel findet sich in einem Blumentopf. Schon merkwürdig, wie schnell sich detektivische Freude beim Suchen herstellt, wie schnell miteinander Vermutungen abgewogen werden. Der Titel dieses immersiven Theaterprojekts erfüllt sich: Die ersten Ergebnisse zeigen, dass Miriam Klimaaktivistin geworden ist. Sie hadert mit der Tatenlosigkeit der Politiker, deren sprachlichen Vermüllungen. Einer von ihnen ist für sie erreichbar: Rudolph Paul Laudenbach. Prompt findet man auf der nächsten Litfaßsäule dessen Wahlplakate, aber auch Hinweise auf die Aktivistengruppe ECO, wie das gleichnamige Computerspiel, in dem neue Zivilisationen aufgebaut werden.

Die Informationen ergeben, dass Miriam sich in ihrer Verzweiflung ob der Zerstörung der Welt – aus dem Radio tönen ständig Notstandsmeldungen – immer mehr radikalisiert hat, in einem Zimmer findet man ein Giftfläschchen und Pläne von Gebäuden, die drei Optionen eruieren: Wasser im Wasserwerk vergiften, Laudenbach erstechen oder ein Kohlekraftwerk zerstören. Anschließend gelangt man in einen Raum, in dem über vier Fernseher Naturkatastrophenfilme laufen, die Pläne liegen abermals aus, diesmal mit dem Vermerk von Abstimmungsergebnissen: Es trifft das Kohlekraftwerk. Und schon meldet sich über ein kleines Funksprechgerät Miriam selbst (mit der Stimme von Sarah Siri Lee König): Sie sei im Kohlekraftwerk und brauche unsere Hilfe… Und dann schaltet sich auch noch die Mutter (von Sabine Martin gesprochen) ein. Der Zwang, sich nun zu Miriams Verzweiflungstat verhalten zu müssen, löst eine heftige moralische Diskussion in der Gruppe aus. Wir haben nicht versucht, Miriam von ihrem Anschlag abzuhalten. Voller Zweifel, ob wir uns richtig verhalten haben, fühlen wir uns alle nicht mehr wohl in unserer Haut.

Am Ende geht es wieder in einen Theaterraum. Andreas L. Mayer, der alle Installationen gestaltet hat, versetzt uns nun in eine paradiesische Kunstlandschaft. Auf einem Fernseher sind Ausschnitte aus einer UNO-Sitzung zu sehen, in der ein junges Mädchen für gutes Klima kämpft, dazu sich ständig steigernder Discosound und kreisende farbige Schweinwerfer, auf dem grünen Kunstrasen liegt ein Abschiedsbrief. Und dann ist der Rundgang zu Ende. Obwohl wir – eine Gruppe aus Erwachsenen – das Bedürfnis haben, mit den Machern zu reden, werden wir allein entlassen. Das ist hoffentlich bei Menschen ab 13 nicht so, denn dieses Theaterprojekt löst Fragen aus, die nicht allein in der Kleingruppe gelöst werden können; die Produktion generiert insofern Redebedarf, als dass sie die Kritik junger Menschen an der Haltung von Politikern aufnimmt, die untätig die Konsequenzen der Klimakatastrophe leugnen. „Immersiv“: einmal wirklich spannend erlebt.