Zwischen den Kulturen: Die Performerin Hasti Molavian

West-östliche Phantasmagorie

Tobias Schwencke, Paul-Georg Dittrich: Ich bin Carmen من کارمن ھستم und das ist kein Liebeslied

Theater:Theater Bremen, Premiere:19.11.2021 (UA)Vorlage:CarmenAutor(in) der Vorlage:Georges BizetRegie:Paul-Georg DittrichMusikalische Leitung:Tobias Schwencke

„Ich bin Carmen“ – für eine junge Frau von heute ist dieses Bekenntnis mindestens mal auffällig: In einem Netz-diskursiven Klima, das jedes Bild von Weiblichkeit peinlichst auf seine politisch korrekte Sterilität hin befragt, bekennt sich ausgerechnet eine attraktive junge Mezzosopranistin aus der so eifrig auf ihre Wokeness  bedachten Theaterwelt zu Bizets Opern-Prototyp der Femme fatale? Wenn man allerdings den Titel der Operperformance „Ich bin Carmen من کارمن ھستم und das ist kein Liebeslied“ in der Regie von Paul-Georg Dittrich am Bremer Theater vollständig zitiert, ahnt man bereits, dass das Klischee „Carmen“ aus einer ganz besonderen Perspektive unter die Lupe genommen wird.

Das lange Warten auf die Uraufführung

Treue Leser der DEUTSCHEN BÜHNE ahnen das nicht nur – sie wissen es bereits. Denn bereits im März dieses Jahres endete unser Werkstattbericht zu dieser Produktion coronabedingt im Nichts. Die Uraufführung war verschoben, lange war unsicher, ob und wann sie nachgeholt werden kann. Jetzt hat der Bremer Intendant Michael Börgerding sie an seinem Kleinen Haus herausgebracht, in einer augenscheinlich nahezu ausverkauften Premiere, der aus dem Zuschauerraum eine Begeisterung entgegenschlug, die bei so einem unkonventionellen Projekt keineswegs selbstverständlich, in diesem Fall allerdings absolut verdient war. Paul-Georg Dittrich ist ja bekannt für die dialektische Struktur seiner Inszenierungen, die zu jeder sich andeutenden interpretatorischen Haltung gegenüber einem Werk immer sofort den Widerspruch dazu mitliefern. Dittrichs Arbeiten sind genau komponierte Kaleidoskope widerstreitender Eindrücke und Behauptungen, die dem Zuschauer die eigene Positionierung abverlangen.

Das ist hier nicht anders. Tobias Schwencke hat aus Bizets und anderen musikalischen Themen ein interessant changierendes Klangarrangement im elektronischen Sound-Design von Christopher Scheuer geschaffen. Pia Dederichs karge Bühne stellt klare symbolische Zeichen bereit, die immer wieder überblendet werden von Kai Wido Meyers assoziativ irrlichternden Videos. Und Joachim Grindel hat die Hauptdarstellerin in lichttechnische Wechselbäder getaucht, die ihre Erscheinung auf verblüffende Weise verwandeln. Ohne diese Hauptdarstellerin allerdings wäre all das nicht möglich gewesen. Denn dies ist der Abend der Mezzosopranistin Hasti Molavian: Sie hat ihn inspiriert, sie trägt ihn darstellerisch auf grandiose Weise und sie steht mit ihrer ganzen Person und Biographie für seine Authentizität ein.  

Eine interkulturelle Künstlerin

Hasti Molavian nämlich stammt aus dem Iran. Dort, in Teheran, fand sie bereits den Weg zur Kunst, spielte Violine, sang im Chor – und musste das meiste davon peinlichst vor den Sittenwächtern des Islamischen Staats verbergen. Als bei einem Mozart-Festival in Teheran ein Gesangsprofessor aus Graz trotz dieser repressiven Umstände auf ihre Stimme aufmerksam wurde und sie ansprach – die damals 15-Jährige sang im Vahdat-Opernhaus die Alt -Soli aus dem Requiem, und damit sie als Solosängerin nicht auffiel, mussten die Chorsängerinnen um sie herum stumm die Lippen dazu bewegen–, da war das ein Wink des Schicksals: Mit 17 Jahren folgte Hasti Molavian der Freiheitsverheißung des Westens und entwickelte sich hier zu einer bemerkenswerten Künstlerinnen-Persönlichkeit, die heute als Performerin bei dem Digitaltheater-Avantgardisten Kay Voges am Wiener Volkstheater engagiert ist.

Wenn diese junge Deutsch-Iranerin sagt: „Ich bin Carmen“ – dann tut sie das aus einer höchst ambivalenten interkulturellen Perspektive. Der Ausschluss der Frau aus dem öffentlichen Leben im Iran nämlich, dieses Diktat des Verhüllens und Verbergens, hat ja auch mit einer Verteufelung weiblicher Sexualität zu tun, deren Sichtbarkeit als toxisch für die (männliche) Gesellschaft empfunden wird. Ein strukturanaloges Klischee, wenn auch gesellschaftlich längst nicht so durchgreifend, erkennt Hasti Molavian offenbar auch in Carmen, der Frau, die den braven Brigadier singend vom Pfad der Tugend weglockt. Die Selbst- und Wiedererkenntnis in diesem Klischee hätte dann eine ziemlich ernüchternde Pointe: Auch hier, im Westen, bin ich als Frau nicht frei, auch hier verfolgen mich ähnliche Zerrbilder.

Hasti Molavian spielt mit ihnen: Auf einem weißen Auto – noch so ein interkulturelles Zeichen, Statussymbol im Okzident wie Orient, zugleich Metapher für Bewegung, Reise, Veränderung – posiert sie als Carmen ziemlich glaubhaft: eine schöne, exotische umwehte Frau mit dunkler Mähne. Genau das sind die Schablonen, in die sie nicht geraten will, gegen die sie kämpft – in einer Szene auch als Torero, als starke Frau, die so aber gleich wieder gefangen ist in einem neuen, männlichen Rollentypus. Als müsste die Frau einen Mann mimen, um stark sein zu dürfen. In einer anderen Szene, wo sie Bizets Canzonen trällert und wieder ganz Carmen zu sein scheint, lässt Tobias Schwenke die Melodie unversehens zu Monteverdi hinüberchangieren. Es wird klar: Frauenklischees beherrschen das Operngenre von Anfang an.

Denn das Leben ist die Liebe…

Immer wieder werden diese Klischees im interkulturellen Kontext neu beleuchtet: Bizets bunter Vogel der Liebe begegnet den Vögeln aus einem iranischen Gedicht, das Macho-Gehabe des Toreros den Imponiergesten des iranischen Kampf-Tanz-Sports Varzesch-e Pahlavani (daher stammen auch die dicken Keulen, mit denen Hasti Molavian hantiert). So kommentieren sich Rollenbilder wechselseitig, vor allem aber stellen sie sich dadurch  infrage, werden un-heimlich, entlarven sich gegenseitig. Hasti Molavian verwandelt sich diese Rollen an, streift sie wieder ab, geht mit dem Auto auf Flugreise ins Nirgendwo, landet auf dem nüchternen Boden der Tatsachen. Sie sieht sich konfrontiert mit den Identifikationsangeboten zweier Kulturen und kämpft darum, gegenüber diesem Doppelangebot ihre Freiheit zu wahren, sich zu definieren, ohne sich in Klischees zu verlieren. Das ist das Leitmotiv dieses vielschichtigen, klang- und bilderreichen Abends. Und es sind Hasti Molavians bannende Bühnenpräsenz und ihre geradezu artistische Wandlungsfähigkeit, die das alles zusammenhält. In Form einer irrlichternden Phantasmagorie präsentiert sie den Zuschauern ihren ganz persönlichen, entschieden avantgardistischen West-östlichen Divan. Diese interkulturelle Konstellation hatte ja schon Goethe inspiriert, unter anderem zu dem schönen Sinnspruch: „Denn das Leben ist die Liebe – Und des Lebens Leben Geist.“