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Wer strebend sich bemüht

Xin Peng Wang: Faust II – Erlösung!

Theater:Theater Dortmund, Premiere:29.10.2016 (UA)Musikalische Leitung:Philipp Armbruster

Sein Streben nach Erkenntnis und das innere Gespür für das Richtige sind es wohl, die Goethes Faust am Ende seines Lebens trotz aller Schuld von seinem befürchteten Schicksal erlösen: „Ein guter Mensch, in seinem dunklen Drange, ist sich des rechten Weges wohl bewußt“, konstatiert Faust selbst und lädt doch mehrfach Schuld auf sich. Zuletzt, vor seinem Tod, möchte er aus dem Meer Land für die Besitzlosen gewinnen, „auf freiem Grund mit freiem Volke stehen“. Mit dieser späten Erkenntnis ist auch ein unerschütterlicher Optimismus verbunden. Ganz in diesem Sinne hat nun Dortmunds Ballettdirektor Xin Peng Wang die literarische Vorlage „Faust II“ in ein Ballett verwandelt (nachdem er sich in der letzten Spielzeit bereits mit „Faust I“ befasst hatte) und dabei um eine heutige Perspektive erweitert. Etwa genauso viel Raum wie die Motive aus „Faust II“ nehmen nämlich getanzte Reflexionen auf das Leid der vielen Flüchtlinge ein, das uns seit dem Sommer 2015 so massiv begegnet ist und noch immer begegnet. Genauso grell wie der Optimismus leuchtet also auch der Zweifel von der Bühne: Ist sich der Mensch noch des „rechten Weges“ bewusst? Wieso ertrinken im Mittelmeer unzählige Menschen? Wieso erstarken in Europa rechte Parteien? Und, wie der Chefdramaturg Christian Baier (Konzept, Szenario, Dramaturgie) im Programmheft konkret fragt: „Hat das Ballett, auch wenn eine abstrakte Ausdrucksform, das Recht, auf Realitäten seiner unmittelbaren Gegenwart nicht zu reagieren?“ Die Antwort folgt sogleich: „Nein, an den Flüchtlingsströmen lässt sich nicht vorbeipirouettieren.“ Erfreulicherweise finden sich all diese Fragen jedoch nicht nur im Programmheft, auch die getanzten Szenen auf der Bühne stellen sie nach und nach in den Raum.

Zuletzt haben sich an den deutschen Stadttheatern wenige Choreographen diesen brisanten politischen Themen gewidmet und dabei obendrein so eindrückliche Wege gefunden, auf der Bühne mit ihnen umzugehen. Am markantesten sind an diesem Abend die Szenen, in denen das Thema Flucht im Zentrum steht. Hier drehen die Tänzer keine formalisierten Pirouetten, als Kontrapunkt zu den übrigen Szenen sehen wir vielmehr suchende, mit den Armen in die Höhe greifende Posen, blicken auf Tänzer, die immer wieder taumeln und in sich zusammenfallen. Bei Xin Peng Wang erscheinen die Flüchtenden einerseits genau wie in der öffentlichen Wahrnehmung, nämlich als gesichtslose Masse (die sich vielfach auch organisch über die Bühne bewegt), andererseits aber auch als Menschen: In ihren engen und hautfarbenen Kostümen (Kostüme: Bernd Skodzig) sehen sie äußerst nackt und verletzlich aus. In einer der mit Abstand stärksten Szenen flimmert eine breite Laser-Lichtfläche (die phantastischen Lichtinstallationen stammen von Li Hui) mit Wellenprojektionen wie eine Wasseroberfläche über die Bühne, in die hinein und aus der heraus die Tänzer förmlich ab- und auftauchen, in der sie aber auch untergehen, aus der zu lautem Meeresrauschen zuletzt nur leblose Körper herausstechen.

Aus Goethes Vorlage hat Xin Pang Wang einzelne Motive herausgelöst und in den Rahmen der zentralen Wette zwischen Faust und Mephisto eingebettet. Wangs Choreographie nimmt konkret Bezug auf die Vorlage, lässt aber auch zeitkritische Deutungen zu. Der Geldscheine herbeizaubernde Mephisto beispielsweise (in der Premiere sehr charaktervoll getanzt von Dann Wilkinson, der diese Figur schon in Wangs „Faust I“ tanzte), steht inmitten einer feiernden, maskierten Gesellschaft einerseits für die Huldigung des Kapitals in der kaiserlichen Pfalz, wie sie in der Vorlage beschrieben wird. Andererseits transportiert Xin Peng Wang dieses Bild in die Jetztzeit: Zu Louis Andriessens nahezu parodistischer Bearbeitung von Beethovens 9. Sinfonie (die Dortmunder Symphoniker spielen ausgewogen unter der Leitung von Philipp Armbruster) hisst Mephisto die Europaflagge. Das nach den Geldscheinen greifende Corps de ballet steht nun endgültig für unsere moderne Gesellschaft, unstillbar gierig nach mehr Kapital und Vergnügen. In ihrer Lesbarkeit sehr konkret sind auch die Szenen des erwachenden, später tanzenden Homunculus (Giacomo Altovino). Ansonsten bleiben die choreographischen Rückgriffe auf die Vorlage vielfach auch sehr assoziativ und frei: so taucht beispielsweise Margarethe in einem Rückgriff noch einmal auf. Herausragend sind an diesem Abend die Tänzer, allen voran Lucia Lacarra (als Helena und Margarethe), die ihr Können unter anderem in einem wunderschönen Pas de deux mit Faust (ebenfalls stark: Marlon Dino) beweist.

Während sich im ersten Teil die Erzählebenen noch nebeneinander her entwickeln, werden sie im zweiten Teil endlich konkret miteinander verzahnt, als es wiederum um eine Fluchtgeschichte geht. Im Zentrum steht nun ein berühmtes Einzelschicksal: der vielfach fotografierte, syrische Junge, der im Mittelmehr ertrank und an die türkische Küste gespült wurde. Langsam rollt ein Kind (Madita Herzog) nach vorn, bleibt in der bekannten künstlichen Haltung am Boden liegen, um nach einer Weile langsam wieder aufzustehen. Vorsichtig deutet es Flügelschläge an, symbolisiert auch Fausts und Helenas früh verstorbenen Sohn Euphorion: Zärtlich nimmt Faust es in seine Arme. Es folgt Fausts Erlösung, vertanzt als Sieg über Mephistopheles. Spätestens mit diesem hoffnungsvollen Schlussbild wird Xin Peng Wangs Haltung zu der Vorlage deutlich, die er sowohl choreographisch als auch inszenatorisch eindrucksvoll mit unserer Gegenwart zu verbinden weiß.