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Wenn wir zuhören würden

Lothar Kittstein/Hüseyin Michael Cirpici: Kein schöner Land

Theater:Theater Krefeld Mönchengladbach, Premiere:28.05.2016 (UA)Regie:Michael Gehrt

Die Begegnung gab es tatsächlich: Eines Tages klopfte am Tegernsee in Bayern ein Flüchtling aus Nigeria an die Tür des Männerchors und fragte, ob er mitsingen könne. Ein kurzes Zögern gab es, doch dann war er dabei. Diese reale Szenerie ist der Ausgangspunkt für das neue Theaterstück „Kein schöner Land“ von Lothar Kittstein und Hüseyin Michael Cirpici, dessen Uraufführung Schauspieldirektor Michael Gehrt am Theater Krefeld-Mönchengladbach verantwortet hat. In Krefeld ist der Proberaum des Chores ausgestattet mit Kirchenbank, Klavier, Stühlen und Heizung (Bühne: Gabriele Trinczek), wird gerade noch gefegt vom Hausmeister. Ein Chor, bestehend aus sieben Schauspielern, singt vom Zuschauerraum aus ein Volkslied („Muß i denn, muß i denn zum Städtele hinaus“), ein Flüchtling bittet von der Bühne aus, mitsingen zu können. Tatsächlich funktioniert die Szene wie eine Folie, steht für hunderttausende, ja Millionen von Flüchtlingen, die an Europas Tür klopften und klopfen, für das Zögern der Europäer, für die Offenheit vieler und die Ablehnung mancher. Für den Wunsch, in eine Gesellschaft aufgenommen zu werden, als gleichwertiger Mensch akzeptiert zu werden, Schutz zu finden – und für die Verunsicherung vieler Deutscher. Wer sind wir, wer seid ihr, wie werden wir uns verändern? Was zunächst den Arbeitstitel „Lampedusa“ trug, haben Kittstein und Hüseyin mit Rücksicht auf die sich überschlagenden Ereignisse seit dem letzten Sommer – von Flüchtlingsmengen in München über die Silvesternacht in Köln bis zu den AfD-Wahlsiegen – verschoben von der Fluchtgeschichte hin zu einem konkreten Blick auf Begegnungen hierzulande. Dafür haben sie Interviews mit Geflüchteten geführt, Foren und Threads in den sozialen Netzwerken durchforstet, um die verschiedenen Stimmen miteinander zu verweben. Was diesen dokumentarischen Theaterabend abhebt von vielen anderen der letzten Monate zum Thema Flucht: Er zeigt echte Geschichten, aber ist in seinen Dialogen zugleich doch wieder so fiktional, dass es zur Vermittlung des Authentischen nicht nötig scheint, alle Laien, deren Erfahrungen im Text verarbeitet sind, ins Rampenlicht zu rücken. Dem Risiko des Zooeffekts geht der Abend damit erfolgreich aus dem Weg, wenn auch nicht ganz konsequent alle Darsteller „nur“ Schauspieler sind: Den Flüchtling spielt ein Schauspieler und „Experte des Alltags“: Jubril Sulaimon floh einst aus Nigeria nach Deutschland, ist jedoch längst ein etablierter Theaterkünstler.

Der Chor erinnert sich an Apfelstrudel und Ketchup. Der Flüchtling an Folter und Blut. Gerade die textliche Verdichtung banaler Assoziationen einerseits und dramatischer Wahrhaftigkeiten andererseits ist berührend. Da das Stück keinem geradlinigem Handlungsstrang folgt, vielmehr einen Begegnungsmoment abstrahiert und geradezu in die Länge zieht, besteht inszenatorisch durchaus das Risiko der Zähigkeit. Matthias Gehrt arrangiert den Text jedoch mit viel Feingefühl für das notwendige Tempo zu einem (gut 90 Minuten dauernden) Theaterabend, der keineswegs von Stillstand zeugt, sondern die Vorlage mit simplen Mitteln zu theatralem Leben erweckt und bei aller dramaturgisch notwendigen Dehnung beharrlich Aufmerksamkeit einfordert. Die sieben Schauspieler-Sänger (Esther Keil, Helen Wendt, Joachim Henschke, Jonathan Hutter, Michael Ophelders, Ronny Tomiska und Christopher Wintgens) bewegen sich dabei darstellerisch auf sehr solidem Niveau, sie agieren wahrlich gekonnt als Gruppe und meistern den großen gesanglichen Teil bravourös.

Ganz real ist durch den dokumentarischen Charakter des Stücks das zunächst ganz diametrale Gespräch. Der Flüchtling wird konfrontiert mit Vorurteilen, man redet geradewegs aneinander vorbei: Der eine berichtet von Verbrechen in seinem Heimatland, die anderen antworten mit Regeln und Gesetzen aus ihrem Heimatland. Optisch wirken Kontraste: Der Flüchtling (Sulaimon spielt ihn ausdrucksstark und mit starker Körperlichkeit) trägt einen Anzug als Symbol des Erfolgs – die Flucht ist überstanden – und zugleich eine Plastiktüte als unfreiwilliges Kennzeichen und Symbol für den aufgegebenen Besitz. Die Kostüme der Chormitglieder fügen sich optisch dagegen ganz ins Bild des Publikums (Kostüme: Petra Wilke) – ein Querschnitt sozusagen: Otto, der Normale? Was auch immer das ist. Das eigene, das Fremde, die, wir. Diese Kategorien und vermeintlichen Gruppenzugehörigkeiten werden durch den Text, aber auch durch Matthias Gehrts Inszenierung infrage gestellt und allgegenwärtige Vorurteile präzise nachgezeichnet. Während die vermeintlichen Sänger sich zunächst im Zuschauerraum verteilt haben und von dort zum Flüchtling sprechen, ihn belehren und korrigieren, betreten sie nach und nach die Bühne – und zwar immer dann, wenn der Text verbindende Elemente hervorbringt. Wenn ein Deutscher und ein Geflüchteter sich im Freibad verlieben, zum Beispiel. Zwischendurch löst sich auch der Hausmeister – tragend verkörpert vom Intendanten Michael Grosse –, aus der dekorativen Präsenz und interviewt den Flüchtling zu den Schrecken seiner Erlebnisse. Perspektivwechsel sind gefragt.

Wie aus Trotz stimmt der Chor immer wieder das Lied an, das vom Fortgehen erzählt – aber eben auch von der Heimkehr: Muss i denn… Sich an ein Volkslied zu klammern wie an die verquere Idee einer deutschen Identität, das wäre eine einseitige Lösung für das Integrationsproblem. Schließlich wird uns allen die Offenheit abverlangt, Traditionen infrage zu stellen. Was also tun? Am Ende zitieren die Chormitglieder auf der Bühne Bruchstücke der Geschichte des Flüchtlings. Sie haben doch zugehört. Wenn daraufhin Jubril Sulaimon, im Publikum stehend, „Kein schöner Land“ zu singen beginnt und immer mehr Zuschauer einstimmen, ist das ein wahrer Gänsehautmoment – weil er die Möglichkeit offeriert, empathisch zu sein und den Dialog zu suchen.