Szene aus "An und Aus" am Schauspiel Stuttgart

Wenn das Licht zu flackern beginnt

Roland Schimmelpfennig: An und Aus

Theater:Schauspiel Stuttgart, Premiere:25.09.2021Regie:Burkhard C. Kosminski

Eine große, weiße Papierwand, die den Raum diagonal schneidet, steht auf einem großen, weißen Kreis. Wenn das Spiel beginnt, malt der Junge mit der Brille etwas auf dem Boden. Eine Frau im roten Hosenanzug schreibt die Zahl „11032011“ auf die Wand. Der Junge zeigt dann seine Bilder, die das Geschehen moritatenhaft kommentieren. Die Frau mit den zwei Gesichtern etwa ist zu sehen oder die Rezeptionstheke des Hotels, in dem der Junge arbeitet.

Was wie eine Moritat beginnt und in der Inszenierung von Burkhard C. Kosminski am Schauspiel Stuttgart manchmal auch slapstickhafte Züge annimmt und sich zu einer Farce über drei Paare zu entwickeln scheint, wendet sich das Geschehen immer mehr ins Tragische. Und das hat mit dem Datum zu tun: Es ist der Tag, als ein Tsunami das Atomkraftwerk in Fukushima unter Wasser setzte.

Paare im Hotel

In „An und Aus“ erzählt der Autor Roland Schimmelpfennig davon, wie dieses Ereignis sich auf die Begegnung von drei Paaren, die sich in einem kleinen Hotel am Hafen mit Blick auf das Meer mit anderen Partnern außerehelich treffen, auswirkt. Der Junge, der an der Rezeption sitzt (von Sven Prietz anrührend gespielt) ist verliebt in das Mädchen mit dem Fahrrad, das oben auf dem Berg gedankenverloren an seinem Klavier klimpert (Musik: Hans Platzgumer). Anne-Marie Lux, wie der Junge bebrillt, spielt verhuscht diese SMS-Beziehung, um deren Vergeblichkeit sie weiß. Sie nennt ihn „Walfisch“ und sich selbst „Biene“: zwei Königskinder, die nicht zueinanderfinden werden. 

Dieser werdenden Liebe stehen in den drei Zimmern drei Paare gegenüber, die die große Liebe schon hinter sich haben und sich mit anderen Partnern in diesem Hotel immer am Montag treffen. Kein Paar weiß vom anderen und das ist auch gut so, denn die jeweiligen Ehepartner wissen nicht, dass im Nebenzimmer …

Merkwürdige Mutationen

Wenn das Licht dann flackert, „an und aus“ geht, finden merkwürdige Veränderungen statt: Frau Z. (selbstbewusst: Katharina Hauter) fühlt sich nun als „Frau mit den zwei Köpfen“, der Herr A. (groß gespielt von Michael Stiller) wird zum „Mann ohne Mund“. Seine Frau A. (virtuos: Evgenia Dodina) wird zu der „Frau aus Stein“, Herr Y. (Gábor Biedermann) zum „Mann mit dem brennenden Herz“, Frau Y. (Therese Dörr) zur „Motte“ und schließlich der joviale Herr Z. (Sebastian Röhrle) als „der tote Fisch“. Schimmelpfennig liebt die Mächtigkeit von Sprachbildern. Von einem Symbol ist allerdings nur die Rede, es ist nicht zu sehen, der Junge spielt es wiederholt an: der berühmte Holzschnitt von Katsushika Hokusai „Die große Welle von Kanagawa“.

Bevor das Flackern des Lichts beginnt, bis es dann ganz in das Dunkel übergeht, sind auf der Wand drei Doppelbetten aufgemalt. Aus einem Schnitt in dem Papier sind die Körper der drei Paare zu sehen. Dann werden aus der einen Wand zwei, die um die weiße Scheibe ein Dreieck bilden. Schon bald aber werden beide Wände eingerissen, zerknüllt. Geschickt spielt die Regie auch mit den akustischen Signalen, die dem Material eigen sind. Florian Etti, der die Szenerie geschaffen hat, und Kosminski machen das gekonnt. Nach dem Dunkel, in dem sich nun die Ehepaare wieder finden, setzt sich die Drehscheibe langsam in Bewegung. Schnee rieselt – im Licht weiß erscheinend, am Boden schwarz. Kurz: Die Ereignisse überstürzen sich in dieser Nacht.

Schimmelpfennig schreibt nur wenige Dialoge. Die Figuren erzählen von sich selbst in der Form der epischen Vergangenheit: Alles ist schon geschehen. In dem Staunen darüber, was ihnen widerfährt beziehungsweise widerfahren ist, vermittelt sich trotz der Katastrophe eine große Leichtigkeit. Die Mischung von Boulevard und großen gesellschaftlichen Themen beherrscht der Autor meisterhaft. Wenn da nicht der Hang wäre, jede Geschichte, jede Biografie bis zum Ende auserzählen zu wollen.