Sebastian Stolz

Weiße Weste über brauner Oper

Othmar Schoeck: Das Schloss Dürande

Theater:Staatstheater Meiningen, Premiere:08.03.2019Autor(in) der Vorlage:Joseph EichendorffRegie:Ansgar HaagMusikalische Leitung:Philippe Bach

Die erhoffte Sensation war da, aber mit schroffen Gedankenbrüchen: Erstmals seit Ende des Zweiten Weltkriegs kam es zu einer szenischen Produktion von Othmar Schoecks Oper „Das Schloss Dürande“. Das Schloss explodierte bei der Uraufführung auf der Bühne der Berliner Staatsoper Unter den Linden am 1. April 1943 zeitgleich mit den ersten realen Bombardements der Allierten auf die Reichshauptstadt. Das Textbuch Hermann Burtes, der Joseph von Eichendorffs 1835/36 entstandene Erzählung in eine für die NS-Ideologie passgenaue Versform schmiedete, wurde seit 1945 als unüberwindbare Hypothek gegen eine hochkarätige Partitur betrachtet. Im Zuge seiner Bemühungen um Othmar Schoeck hatte Mario Venzago, der bereits dessen „Penthesilea“ kritisch sichtete, die Partitur für die textliche Neubearbeitung behutsam adaptiert. Nach einer konzertanten Aufführung dieser Fassung in Bern folgte jetzt am Meininger Staatstheater im Vorfeld der „Festwoche“ vom 4. bis 14. April deren „szenische Uraufführung“. Francesco Micieli ergänzte etwa 60% von Burtes Originallibretto durch Auszüge aus Eichendorffs Prosa und Gedichten. Für dieses Projekt leistete eine Arbeitsgruppe an der Hochschule für Kunst Bern unter Leitung von Thomas Gartmann umfangreiche wissenschaftliche Vorarbeiten. Der Anspruch war also immens und der Meininger Großeinsatz beeindruckend für eine Oper, die erkennbar von Humperdincks „Königskindern“ bis Schreker das Musiktheater-Schaffen nach 1900 reflektiert, aber bei martialischen Trink- und Rebellen-Chören im „Volkston“ röhrt.

Ständig glaubt man sich also auf sumpfigem Grund bei diesem ambitionierten Unterfangen. Intendant Ansgar Haag konzentriert sich in seiner Personenführung auf geradliniges Erzählen. Das bekräftigt die Analogie zu den Regungen der Figuren, die zu den frisch eingefügten Eichendorff-Gedichten aus den dramatischen Prozessen heraustreten und Emotionen zum kommentierten Fließen bringen. Bernd Dieter Müller und Annette Zepperitz bauten einen in sich verzogenen Einheitsraum mit geraden Wänden und Stilmerkmalen, die wie Kassetten im Mauerwerk auf nationalsozialistische „Illusionen in Stein“ verweisen: Projektionen und sparsame Zeichen stehen für Waldromantik und Waldkloster, bis der Paris-Akt in die Zeit der Résistance springt. Das ist gebrochen „opernhaft“ und bekennt sich zum poetischen Epizentrum der Musik, die von Heinrich Burtes stählern-hausbackenen Versen in permanente Mitleidenschaft gezogen wurde.

Spannend ist Eichendorffs für ihn untypisch angerautes Motiv-Repertoire, das umso mehr in Kontrast zu seiner Natur- und Seelenlyrik steht: Der überprotektive Jäger Renald will die Liebe seiner Schwester Gabriele zu Graf Armand von Dürande, seinem Dienstherren, verhindern. Gabriele geht erst ins Kloster und verfolgt Armand, als Mann verkleidet, nach Paris. Wie andere Travestie-Figuren Eichendorffs bleibt sie dem Geliebten nah, ohne sich ihm zu erkennen zu geben oder ihn mit Forderungen zu bedrängen. Renald schließt sich in Paris Anhängern der Französischen Revolution an. Mit dem alten Graf von Dürande stirbt das Zeitalter des Feudalismus. Armand, der Gabriele erst am Schluss wiedererkennt, fällt mit ihr unter den Schüssen Renalds, der das Pulverlager auf Schloss Dürande entzündet und dieses in die Luft jagt: Aufstand der populistischen Massen gegen die dekadenten Eliten. Jenseits der im Nationalsozialismus genehmen Assoziationen an Kleists „Käthchen von Heilbronn“ und „Michael Kohlhaas“ akzentuiert Haags Inszenierung, dass die Liebe Gabrieles und Armands über körperlichem Begehren steht. Das gipfelt in jener Szene des Paris-Aktes, in der Gabriele die aggressive sexuelle Vereinigung Armands und der Gräfin Morvaille beobachtet. Konterrevolutionäre Allianz des adeligen Paares wird zum verbalen Beischlaf-Fetisch, Gabriele beobachtet das in Haags Regie ohne Eifersucht.

Die Meininger Produktion unterläuft erfolgreich Assoziationen an Deutschtümelei auch mit einer internationalen Besetzung der drei Hauptpartien. Durch ihre Erscheinung und ihr italienisch-lyrisches Timbre ist Mine Yücel alles andere als ein deutsches Mädel. Shin Taniguchi offenbart sich als sängerdarstellerisches Bariton-Wunder für Schoeck sowie seine zwiespältige Rolle des Rächers und Anhängers der Populisten. Ondrej Šaling nutzt das einzige Mittel, aus Armand eine halbwegs interessante Figur zu machen: Er singt betörend und damit durchaus im Sinne Eichendorffs, bei dem es doch so oft um Seelenrufe und Horntöne geht. Eine kluge Entscheidung war auch, der hochgewachsenen, blonden und mit gebrochenem Arm die Premiere bewundernswert meisternden Sonja Freitag die Partie der Gräfin Morvaille anzuvertrauen. Das kommt einer bedrohten „Rosenkavalier“-Marschallin gleich, welche die Französische Revolution mit Anmut, Würde und Klugheit erträgt.

Die durchgängig überdurchschnittliche Besetzung von Episoden- und Kleinpartien wie Roland Hartmann (Nicolas), Mikko Järviluoto (Wildhüter), Giulio Alvise Caselli (Wirt) und Sangjun Lee (Gärtnerbursche) ist beeindruckend. Vom Chor mit Extrachor (André Weiss) und der Meininger Hofkapelle wird hervorragend musiziert, an den richtigen Stellen packend und mit sensibler Transparenz bei den vielen Horn-, Violin- und allen anderen Soli. Das ständig im Einsatz befindliche Orchesterklavier setzte man in eine Proszeniumsloge, in der es seine musik-szenische Vermittlerinstanz für die lyrischen Szenen erfüllt. Bei Schoeck prallen die tumb jauchzende Volkstümlichkeit aus „Der Trompeter von Säckingen“ und die Transzendenz von Strauss‘ „Ariadne auf Naxos“-Oper aufeinander. Aber nur durch letztere wird verständlich, dass man sich für die Musik Schoecks begeistern kann. Berückende Wirkungen sind in seinen Gesängen zu Goethes „Erwin und Elmire op. 25“ mit Kammerensemble ohne ideologische Skepsis genießbar, in „Das Schloss Dürande“ sind diese allerdings in großem Umfang fragwürdig. Philippe Bach hat am Pult für einen von ihm mit kundiger Hand geleiteten Abend die besten Voraussetzungen. Unter ihm vollendet sich das Plädoyer für Schoecks meisterhafte Instrumentation.

Vorsicht ist bei „Das Schloss Dürande“ auch nach der Bearbeitung generell geboten: In seinem Heimatland Schweiz steht der Verbreitung eines der wichtigen Komponisten dessen opportunistische, wenn nicht gar affirmative Neigung zum Nationalsozialismus gegenüber. Diese geht über eine erfolgsorientierte Haltung für Hitler-Deutschland, wo Schoeck seine wichtigsten Opernerfolge feiern konnte, weit hinaus. Fragwürdig scheint auch die Neupositionierung eines von Schoecks Hauptwerken, das nur durch kräftige Veränderungen für die Bühne zu retten ist. Das Produktionsteam um Ansgar Haag, der derzeit nie eine Oper des mindestens ebenso umstrittenen Hans Pfitzner auf den Meininger Spielplan setzen würde, zeigt, dass sich mit szenischen Mitteln Schoecks Opus tatsächlich hinterfragen lässt.

Die Chorszenen im Waldkloster-Akt werden in Meiningen durch Anna Maria Dur als sinnlich lockende Äbtissinnen-Flamme zur witzig ausbalancierten Offenbachiade. Francesco Micieli hat hier Burtes Trinklied-Reime von „Zecher“ auf „Sorgenbrecher“ durch Eichendorff-Verse ersetzt, in denen mit den Reben der Tod kommt. Wenn der alte Graf als Fossil des knöcherig gewordenen Ancien Régime verlöscht, gerät das in Nähe von Büchners gerade in Meiningen vorbereitetem Lustspiel „Leonce und Lena“. Auch mit Matthias Grätzels freisinniger Wende vom Arioso zum ausgezehrten Sprechgesang verdeutlicht sich, dass man ohne weiteres szenische Mittel gegen ideologische Implikationen erfinden kann.

Ein riesiger Erfolg mit Bravi folgt auf die Erstbegegnung mit einer Partitur, die auch wie ein resümierender Abgesang auf das neuromantische Opernschaffen anmutet. Kanten stecken dabei nicht nur in der Adaption Schoecks, sondern auch in der Quelle Eichendorffs. Man kann die braune Decke auf Schoecks „Schloss Dürande“ nicht derart unkompliziert durch eine weiße Unschuldsweste ersetzen, wie das die Bearbeiter dieser Neufassung suggerieren. Also wäre zu begrüßen, wenn die Diskussion über bipolare bzw. als bipolar rezipierte Werke nach den Erfahrungen aus dieser halben Uraufführung erst recht in Gang käme. Warum nicht bei einer Fachtagung in Meiningen?