Bis dahin ist Dea Lohers Text von kluger Ambivalenz. Genau die Tatsache, dass die kleine Mira im Bewusstsein radikalen moralisch „richtigen“ Handelns die erneute Eskalation auslöst, zeigt, wie vertrackt die Dinge liegen. Nur schüttelt die Autorin dann leider noch eine völlig überflüssige pathetische Trumpfkarte aus dem Ärmel, weil sich nämlich herausstellt, dass Mira in Wahrheit Akis und Oonas Tochter ist und sie also den eigenen Vater ans Messer geliefert hat. Aber zum Glück ist „Weine nicht, singe“ ja kein Theaterstück, sondern ein Text für Musiktheater. Und der eklektizistische Soundtrack mit seinen artifiziellen Gesangspartien, den der zwischen E und U, Jazz und strengem Neue-Musik-Satz phantasievoll swingende Schweizer Komponist Michael Wertmüller dazu geschrieben hat, zielt hörbar weniger auf die pathetischen Aspekte des Textes als vielmehr auf die spielerischen. Sowohl Aki wie auch der alte Zeno beispielsweise spielen Hammondorgel – also bereichert Wertmüller das seriöse Streichtrio mit Klarinette um eine rockig röhrende Hammond B-3, ein wuchtiges Drum Set und einen E-Bass. Immer wieder bekommen Lohers Textkaskaden etwas tänzerisch Trudelndes – also pulsiert hier ein permanenter musikalischer Drive, der aus tragischer Verwicklung einen rhythmisch teils ganz schön vertrackten Vaudeville macht. Diese Musik will weder Avantgarde sein noch Tradition klug zitieren. Sie will einfach nur funktionieren. Und das tut sie!
Tut es auch dank Jette Steckels so blitzgescheiter wie sensibler Inszenierung. Sie hütet sich, in die Realismusfalle zu tappen und zieht stattdessen ein turbulentes Tingeltangel-Sinn-Spiel mit Commedia-Clowns in Pauline Hüners weiß-bunt-gepunkteten Kostümen ab – das aber so klug, dass dem Ernst des Themas nicht der mindeste Abbruch geschieht. Der Bühnenbildner Florian Lösche hebt in der düsteren opera stabile die Grenzen zwischen Auditorium und Bühne auf, die Darsteller toben und stolpern mitten durch die auf schwarzen Klötzen sitzenden Zuschauer. Von der Decke hängt eine strahlenförmige Stroboskop-Lichtinstallation für die dramatisch-musikalischen Knalleffekte, die auch Jette Steckel immer wieder setzt. Die Figuren agieren nach einer genauen, dabei ziemlich turbulenten Choreographie, die die Konfrontationen in agile Körperaktion umsetzt.
Grandios sind die beiden Schauspieler im Ensemble: Tina Keserovic, die die kleine Mira als kratzkehlige Kratzbürste mit der unbedingten Sehnsucht nach der einfachen Wahrheit in unbändiger Power hinfetzt; und Josef Ostendorf, ein gebrochener Patriarch von der raumgreifenden Dominanz eines Bernhhard’schen Bruscon, fett thronend in seinem elektrischen Rollstuhl, sehend geworden durch drei Granatsplitter in seinem Hirn und wunderlich geworden durch die Einsicht, dass sein Sehen vor der kalten Macht des Faktischen versagt. Aber auch Holger Falks Aki, Jürgen Sachers Ron und Ruth Rosenfelds Altai, denen Wertmüller hochexaltierte Gesangspartien mit beträchtlichen artifiziellen Herausforderungen geschrieben hat, extreme Intervalle und Registerwechsel, bizarre Koloraturen, bei den Männern dauernder Wechsel zwischen Bruststimme und Falsett – auch sie machen ihre Sache glänzend. Einer aber ist eine Klasse für sich: der musikalische Leiter Titus Engel, der alle Akteure sowie die vier E-Instrumentalisten vom Ensemble Resonanz und die drei U-Jazzer der Formation Steamboat Switzerland sicher durch Wertmüllers halsbrecherische rhythmische Stromschnellen geleitet und dabei auch noch mit den Darstellern agiert und tanzt wie ein dirigierender Derwisch. Alle Achtung!
So also ist aus Dea Lohers nachdenklichem Stück mit leichtem Hang zur Betulichkeit ein turbulenter Totentanz geworden: kein Großereignis der neuen Musik, aber dafür richtig gutes, vitales Musiktheater. Weine nicht, tingle! – es muss nicht immer tränentriefender Ernst sein, wenn es um bitterernste Themen geht, schon gar nicht auf dem Theater. Die Uraufführung wurde mit gewaltigem Jubel quittiert.