Szene mit Tyler Schnese, Guido Badalamenti, Vítek Ko?ínek und Tatsuki Takada

Warum er?

Tim Plegge: Kaspar Hauser

Theater:Hessisches Staatsballett, Premiere:13.02.2016

Ballett ist fürs Gefühl zuständig. Dem Satz muss man nicht zustimmen, aber wer es tut, der ist bei diesem „Kaspar Hauser“ gut aufgehoben. Wobei es dort ja gerade ums Nichtaufgehobensein geht, darum, nicht richtig dazuzugehören, nicht zu wissen, wo man herkommt, Unsicherheit. Tim Plegge, Chefchoreograph des Hessischen Staatsballetts in Wiesbaden und Darmstadt, hat bislang die Geschichten von „Momo“ ( in Karlsruhe) und „Aschenputtel“ in abendfüllenden Werken tanzen lassen, ebenfalls Außenseiterfiguren. Nun war vielleicht mal eine männliche Hauptperson dran. Das Stück gelingt ihm, mit gewachsener Erfahrung, auch deutlich besser. Ein Märchen, nur eben mit schrecklichem Ausgang, ist die fast zweihundert Jahre alte Story ja fast ebenso. Obwohl es einen Menschen mit dem Namen im 19. Jahrhundert wirklich gegeben hat.

Sein Schicksal spukt bis heute immer wieder durch diverse Kunstsparten und durch die Presse, ob mal die DNA an der blutverschmierten Unterhose untersucht oder eine Gruft geöffnet wird, in der ein Sarg fehlt, Verschwörungstheorien inklusive. Plegge trug sich schon länger mit der Idee, über diese Opferfigur mal ein Stück zu machen und ließ sich, wie er mal erwähnte, von Beobachtungen der Tänzergemeinschaft im Ballettsaal inspirieren. Das sieht man dem Stück nicht mehr an, schade eigentlich, denn die szenische Umsetzung ist so weit vom Alltag entfernt, so theatralisiert, dass sie keine verschärfte Beobachtungsgabe benötigt. Alles ist klar. Wenn am Anfang eines „Tatorts“ die Kamera auf eine leere, ausschwingende Schaukel starrt, erregt schon die Horrorvorstellung das darin geübte Zuschauergefühl: Kind geklaut! Auch Plegges Kaspar Hauser, in der Verkörperung eines niedlichen blonden Jungen, wird von so einem Spielgerät weggeholt.

Wer war’s? Ein Herr im dunklen Pelzkragenmantel, Taulant Shehu, er legt das stille Kind in einem Verlies mit hohen Wänden ab. Nun geht Kaspars Geschichte ihren traurigen Gang, und der heißt: Drehen. Sebastian Hannak hat für Kaspars Unbehaustheit das passende Raumgefühl geschaffen. Nichts bleibt. Zwei dicke helle Wände schieben sich zu unterschiedlichen Winkeln zusammen, mal enger, mal weiter, bis hin zur langen Mauer, sie haben Tapetentüren, die sich unangekündigt öffnen. Das Ganze schiebt sich auf der Drehbühne mal in die eine, mal in die andere Richtung. Eine der Wandseiten zeigt den Ausschnitt eines Rembrandtgemäldes in groben Pixeln: Eine Gruppe alter Männer mit Hüten späht auf einen entblößten vor ihnen liegenden Leib. Diese herabgeneigten kalten Blicke scheinen auch den Kaspar da unten auf der Bühne zu verfolgen. Ein toller, unheimlicher Effekt.

Der Junge also wird älter in seinem Gefängnis, er sitzt da apathisch, was schlimmer wirkt, als es ein Anrennen gegen Wände wäre. Tyler Schnese verkörpert den Kaspar nun, er trägt das Ballett bis zum mörderischen Ende und abschließenden einsamem Epilog. Mit Einfühlung und ohne jegliches ballettige Protzen gibt er ihm einen auf berührende Weise naiven Charakter. Großartig. Kaspar lässt sich manipulieren, er kennt’s ja nicht anders, noch vom Gefängnis, wo ihn der Entführer nach einer Weile recht grobianisch mit Heben und Zerren zum Aufstehen animiert und rausträgt. Wie mühevoll der Weg vom Boden zum aufrechten Gang ist, machen Plegge und Schnese durch viel Erschlaffen, Taumeln, schief aufgesetzte Füße sinnfällig.

„Er schaut zu, wie sich der Boden von ihm entfernt“, schrieb Peter Handke über diesen Kampf des Körpers gegen die Schwerkraft in seinem berühmten „Kaspar“-Stück von 1967. Dieses Entfernen ist seine zweite Entfremdung. Das lässt Plegge in einem von Kaspars Soli erahnen: Als er sich später mal in einer feinen Gesellschaft beweisen will und dabei immer wieder weich auf die Knie sinkt. Diese gummiartigen Beine sind sein Stil, seine Stimme, so scheint es hier, und die arroganten Leute, die miteinander Pferdchen spielen, goutieren eine solche Eigenheit nicht, lachen ihn aus. Ihr Swingerclub bleibt lieber unter sich, und der edle Herr, der sich um Kaspar kümmert, missbraucht ihn hinter verschlossenen Türen.

Dass dieser Junge aber auch seine hellen Momente hat, beim Anblick seiner tanzenden Adoptiveltern und im Kreise munterer Internatsmitschüler, macht solche schrecklichen Phasen umso grausiger. Wobei jedoch die karikaturhaften vier Ärzte in Kitteln und mit schwarzen Hüten und auch der allzu ausführlich wie ein Filmgangster rauchende und exaltiert sein Messer kreisende Mörder im Trenchcoat zu dick aufgetragen sind für ein wirklich bedrohliches Gefühl. Doch dafür gibt es ja auch die Musik. Die Collage von Daniel Lett aus Schubert und Schostakowitsch, Glass, Pärt und Gorecki plus Filmmusiken, bildet eine so einnehmende Klangkulisse zu Einsamkeit, Nervosität, kurzer Fröhlichkeit, falscher Nettigkeit und Unheil, dass die Personen sich auf der Bühne kaum mehr bewegen müssten, um zu verdeutlichen, was los ist. Ein Blick, eine Hand- oder Fußwendung reichte aus.

Das ist letztlich das Problem bei dem insgesamt klug strukturierten Ballett. In Kaspars solistischen Partien und bei den einigen zu kurzen Duetten geben die Tänzer einen eigenen Drive mit hinein, der menschlich irgendwie nachvollziehbar wird. Ein Wollen und Wünschen bis in die Fingerspitzen hinein. Doch vielem anderem, den Gruppenszenen mit ihren Unisonoformationen und den „bösen“ Solos fehlt der Fokus. Buchstäblich: Man weiß nicht, wohin die Tänzer sich bei den Schwüngen, dem Armeschlingen, Beinheben eigentlich wenden. Warum sie springen, warum sie sich so häufig bücken. Das hat eine choreographische Unbehaustheit, die nicht so ganz passt.