Szene aus "Verschwinden"

Wandern durch die Geschichte

Elise Wilk: Verschwinden

Theater:Uckermärkische Bühnen Schwedt, Premiere:03.03.2023 (DSE)Regie:Vlad Massaci

Es bleiben die Koffer – auch dann, wenn es die Menschen, denen sie gehörten, nicht mehr gibt. Sie werden hin und her geschoben, dienen als Sitzgelegenheit oder als Barrikade gegen die fremde Welt da draußen. Auf manchen stehen die Namen ihrer Besitzerinnen und Besitzer. Koffer sind für Bühnenbildner Andu Dumitrescu das Symbol einer unbehausten Existenz.

Vlad Massaci hat an den Uckermärkischen Bühnen Schwedt „Verschwinden“ von der Rumäniendeutschen Elise Wilk auf die Bühne gebracht. Sie wurde 1981 in Brasov (Kronstadt) als Tochter eines Siebenbürger Sachsen und einer Rumänin geboren und wuchs zweisprachig auf. Bis heute lebt sie in Rumänien und geht viel auf Reisen (auch darum die Koffer!). Nach Deutschland ist sie nicht gezogen, wie so viele aus ihrer Familie. Was hält sie in Rumänien? Um diese Frage zu beantworten, hat sie „Verschwinden“ geschrieben.

Auch im Osten Deutschlands lebten (und leben) gleich mehrere Generationen mit der Frage: Gehen oder Bleiben? Wobei es Zeiten gab, da durfte man nicht gehen. Da konnte man nur wählen zwischen einem demütigenden Ausreiseantragsprozedere – oft jahrelang mit ungewissen Ausgang – oder dem Versuch zu flüchten – mit dem Gefängnis als Konsequenz im Falle des Scheiterns. Das Schlimmste war für nicht wenige, gleich ob im Rumänien Ceausescus oder Honeckers DDR, dass sie nicht wussten, ob sie nun ins Ungewisse „verschwinden“ oder aber in der altbekannten Misere aushalten sollten. Nur sagte man in der DDR „abhauen“, auch die Memoiren eines der prominentesten Weggeher, Manfred Krug – Identifikationsfigur für viele im Lande – heißen „Abgehauen“. Wie soll man dieses Zugleich von Befreiung und unstillbarer Sehnsucht nach einem Land, in dem man es doch nicht länger ausgehalten hatte, verstehen?

Solch paradoxe Wesen sind wir: Es treibt uns fort, und fortgehend peinigt uns die Erinnerung an das Verlassene. Im besten Falle gibt die Erinnerung uns auch Halt, eine immer irgendwie enttäuschende Gegenwart auszuhalten.

Familiengeschichte mit historischen Dimensionen

Einen ähnlichen weiten Bogen hatte Nino Haratischwili mit ihrem mehrfach für die Bühne adaptierten Roman „Das achte Leben (Für Brilka)“ geschlagen. Familiengeschichte wird als Teil einer mörderischen Jahrhundertgeschichte erzählt. Elise Wilk wählt mit „Verschwinden“ bewusst das Kammerspielformat. Sie miniaturisiert, baut eine Art Modell. Sechs Schauspielerinnen und Schauspieler für zwölf Figuren auf drei Zeitebenen: 1945, 1989 und 2006. Sie sitzen, wenn sie gerade nicht dran sind, in Boxen im Bühnenhintergrund. Die haben etwas von Grabkammern. Denn auch die Toten bleiben hier präsent – auch wenn sie nicht mehr mitspielen.

Den Mittelpunkt der Inszenierung, bei der die Bühne häufig im Halbdunkel liegt, bildet das Jahr 1989. Wenn man von einer „Zeitenwende“ sprechen will, dann sollte man es diesem Jahr vorbehalten, in dem die gefährlich-bizarre Blüten treibende Konkurrenz zweier Weltsysteme endete. Im Jahr 1989 sehen wir Martha (Alexandra-Magdalena Heinrich) auf dem Absprung in den Westen. Ihr Mann aber will bleiben. Um Pässe zu bekommen, müssten sie ihr Haus an einen Funktionär verkaufen, fast umsonst – die Korruption ist allgegenwärtig. Ein Nachbar hat zwei Häuser mit Garten für 800 DM fortgegeben. Was für eine Entwertung der eigenen über Generationen gewachsenen Familien-Existenz!

Es ist eine alltägliche Geschichte, die hier erzählt wird vom Verschwinden der Deutschen in Rumänien. Für die Betroffenen war sie allerdings mit dramatischen Brüchen verbunden. Vor 100 Jahren lebten hier noch eine dreiviertel Million Siebenbürger Sachsen und Banater Schwaben, 1989 waren es noch 200.000 – von denen allein im Laufe des Jahres 1990 ungefähr die Hälfte nach Deutschland ging. Heute leben nur noch 20.000 Deutsche in Rumänien.

Es geht um schmerzvollen Verlust und Aufbruch ins Ungewisse. Nein, Deutschland ist nicht das gelobte Land. Und der Geruch der Intershops nach Seife und Parfüm, der für die Ostler (gleich ob in der DDR oder in Rumänien) der verheißungsvolle Geruch des Westens schlechthin war, ist auch längst verschwunden. Nun stinkt es hier in manchen Ecken erbärmlich nach Schmutz und Elend.

Entscheidungen und Erzählungen

Es ist dennoch keine bloße Enttäuschungsgeschichte, sondern die einer bis heute aufrechterhaltenen Distanz. Der Westen erscheint banal: Wer hier überleben will, der hat meist keine Zeit zu träumen. Im Osten war viel Traum, der ins Unbestimmte ging. Man lebte jenseits der Macht des Geldes. Aber dafür oft mitten im Schrecken: so wurden 1945 über 70.000 Deutsche aus Rumänien zur Zwangsarbeit nach Sibirien deportiert. Davon erzählt der zweite Teil des Abends, um dann im dritten anzulangen, der im Jahr 2006 spielt.

Wenn sich die zwischen Rumänien und Deutschland geteilte Familie etwa zu Geburtstagen versammelt (immer seltener), dann ist viel Fremdheit zwischen ihnen. Die Jungen wollen die alten Geschichten, die dann erzählt werden, nicht mehr hören. Nicht die von 1945 und auch nicht die von 1989. Die Alten sterben ohnehin nach und nach. Emma (Adele Schlichter) ist in Rumänien geblieben, wollte nie weg. Die Gespräche zwischen denen in der Familie, die weggingen und denen, die blieben, könnten in gleicher Weise auch in Ostdeutschland geführt werden.

Das gegenseitige Missverstehen wächst, die Atmosphäre schwankt zwischen Gleichgültigkeit und Aggression. Traum und Trauma, so die Autorin Elise Wilk, lägen dicht beieinander. Dazu kommen Gedanken zu Walter Benjamin, der schrieb, man müsse das, was an Zukunft mit der Vergangenheit voreilig begraben wurde, immer wieder ausgraben. Elise Wilk versucht genau dies mit ihrer Reise in die Vergangenheit, bei der auch die Toten gehört werden. Denn ihre Geschichten sollen weiterleben.

Der Abend fließt eher gleichmäßig dahin, ohne starke dramatische Wendungen. Manchmal droht er dabei auch etwas den inneren Spannungsbogen zu verlieren. Das Publikum aber lässt sich auf dieses Stück konzentrierter Alltagsgeschichte sofort ein, denn auch in Schwedt kennt man das Phänomen des Verschwindens von Lebenswirklichkeit sehr genau. Udo Schneider (als Max und Reiner) moderiert diese Zeitreise wohltuend zurückhaltend. Sie wird in der klugen Regie von Vlad Massaci auch zu einem geschichtsphilosophischen Exkurs, der jedoch nicht über die Einzelnen theoretisierend hinweggeht, sondern anhand ihrer über den Sinn des Lebens in konkreten geschichtlichen Situationen reflektiert. Das sechsköpfige Ensemble – auch Ines Venus Heinrich und Bernhard Schnepf – in unterschiedlichen Rollen agierend, betreiben dieses anspruchsvolle Experiment mit vorsichtiger Entdeckungsfreude.