Foto: Szene aus der Uraufführung „Delirio” in der Tischlerei der Deutsche Oper Berlin © Thomas Aurin
Text:Clemens Haustein, am 5. Juni 2019
Eine Frau betrauert den Tod ihres Geliebten, entschließt sich in die Totenwelt hinabzusteigen, um ihn zu retten, merkt dort, dass er nicht auf sie reagiert und sie nicht einmal anschaut, nimmt ihn aber dennoch mit zurück über den Fluß, der die Unter- von der Oberwelt trennt. Ist Tirsi – so heißt die männliche Figur – überhaupt Cloris Geliebter? Oder bildet sie sich alles nur ein in einem nicht näher definierten Wahn? „Il delirio amoroso“ heißt die Kantate, die Georg Friedrich Händel während seines Studienaufenthaltes in Italien schrieb, „Liebeswahn“ also. Den Text dazu schrieb ein Kardinal (so etwas gab es damals), Händel komponierte eine expressive, südlich sprühende Musik.
In einer fortgesponnen Fassung dieser Kantate, die nun in der Tischlerei der Deutschen Oper Berlin Premiere hatte, bleibt vor allem der Wahn übrig: „Delirio“ lautet der Titel nurmehr. Die libanesische Autorin Hyam Yared dachte und fühlte die Situation in Händels Kantate weiter und schrieb neue Texte, die sich mit dem Thema des Verschwindens beschäftigen. Der ebenfalls im Libanon geborene, mittlerweile in Paris lebende Komponist Zad Moultaka vertonte sie: sanft aus Händels Musik herauswachsend, als Clori in die Unterwelt aufbricht (die Eingangsnummern bleiben original), dezent elekronische Effekte und Einspielungen über Lautsprecher verwendend, Motivfetzen aus Händels Stück immer wieder einfließen lassend als handle es sich dabei um die Grundierung für ein neues Bild. Angenehm ist Moultakas Musik, sie stört nicht und sorgt für eine dezente, fast schon unauffällige Klangmöblierung. Sie kitzelt aber auch nicht und mag den Hörer nicht herausfordern, abgesehen von einer Passage, wo Cloris Wahn sich dann doch einmal lautstark äußert.
Das mag passen zu einem Libretto, das wenig Handlung liefert, aber eine grüblerische Vertiefung dessen, was Händel seinerseits schon behandelt hatte. Solche Vertiefung bringt bei Hyam Yared thematische Erweiterung (wenn der Unterwelt-Fährmann auftritt, folgt, man ahnte es schon, ein Exkurs zur Flüchtingsproblematik im Mittelmeer), sondern auch wohlfeile Weisheiten („Der Teufel ist tot, seit er zum Menschen wurde“ – War der Teufel denn nicht immer eine Projektion alles menschlich Teuflischen?) und Kitsch. „Er ist die Erinnerung meiner Hüften“, seufzt Clori über ihren (eingebildeten?) Liebhaber, berichtet, dass sie „seinen Abdruck in meinem Fleisch“ trage und gibt am Ende bekannt, dass sie tot sein werde „mit weit geöffneten Beinen“. Der Wahn ein sexuelles Problem?
Die Inszenierung hilft nicht weiter. Drei Häuschen hat Bühnen- und Kostümbildnerin Hannah König hingestellt als unbewohnbare Sehnsuchtsorte, weil man nicht in sie hineingelangen kann. Häusliches Leben ist wenig heimelig nach draußen verlagert, Sofas und Stühle stehen da mit dicken Schutzbezügen aus durchsichtigem Plastik, ein Tisch auch, ein Waschbecken. Clori selbst tritt in der Inszenierung von Wolfgang Nägele in vierfacher Ausführung auf, was auf Schizophrenie als Kern der wahnhaften Erkrankung hindeuten könnte. In Rosarot gesteckt treten die vier Cloris auf, eine davon weiblich, Flurina Stucki, die ihrer Rolle mit wuchtigem Sopran eine hochdramatische Anmutung gibt. Der klangschöne Tenor Matthew Peña spielt und singt neben der Clori-Vervielfachung einen sensiblen Küstenwachmann, der düstere Bass Paull-Antony Keightley einen schwarz gewandeten Unterwelt-Fährmann in dicken Gummistiefeln. Der Countertenor Guilhelm Terrail echot zart.
Der Handlungsarmut versucht Nägele mit erfindungsreicher Szene Herr zu werden: (Kunst?-)Fische werden genüsslich aufgeschnitten und die Innereien ebenso genüsslich herausgezogen, Wände werden mit italienischen Worten beschrieben (anknüpfend an Händel bleibt auch die Libretto-Erweiterung Italienisch), es fehlt auch nicht das Ganzkörperbad im Farbtopf nebst bildnerischer Betätigung anschließend in robbender Fortbewegung. Man kan sich nicht beschweren, dass zu wenig passieren würde und doch schafft es die sanfte Betriebsamkeit von Nägeles Personenführung nicht, die Magerkeit eines Stückes zu überspielen, zu dessen größten Vorzügen eine humane Dauer von gut einer Stunde gehört. Cloris Problem bleibt seltsam vage, ihre Einsamkeit angesichts einer meist mit vier Personen besetzten und sonst ziemlich vollgestellten Bühne eine Behauptung. Die soundhafte Weichheit der Musik trägt das ihre bei zur einschläfernden Wirkung der Aufführung.
Das war zu Beginn des Abends noch anders, als das kleine Ensemble aus Musikern des Orchesters der Deutschen Oper angeleitet von Christian Karlsen sprühende Funken schlug aus Händels Musik: engagiert spielend, klangschön und sprechend. Doch mit dem allmählichen Verschwinden des Originals, scheint auch das tragende Skelett dieser Aufführung zu verschwinden.