Foto: Johannes Mooser in "Santa Chiara" am Staatstheater Meiningen © Christina Iberl
Text:Roberto Becker, am 19. Februar 2022
Die Idee des Intendanten Jens Neundorff von Ensberg, das Programm seines Meininger Staatstheaters mit Ausgrabungen zu adeln, die einen regionalen Bezug haben, hat Charme. Mit der zweiten Neuproduktion aus dieser Kategorie (nach Johann Christian Bachs „La Clemenza di Scipione“) knüpft er sogar an Historisches an. In der Stadt des Theaterherzogs Georg II. ist das höfische Traditionsbewusstsein noch so lebendig, dass man sogar das Orchester (wieder) in Hofkapelle umbenannte. Die Oper „Santa Chiara“ stammt aus der Feder eines musisch ambitionierten, fürstlichen Nachbarn von Georg II.: Herzog Ernst II. von Sachsen-Coburg und Gotha. Der bestieg mit 26 Jahren den Thron, während sein jüngerer Bruder nach England auswanderte. Dort blieb dieser Prinz Albert zwar immer die berühmten paar Schritte hinter seiner Gattin, aber da es sich dabei um Queen Victoria handelte, genügte das für reichlich Nachruhm.
Ernst II. freilich musste die Zeit für seine musischen Ambitionen dem fürstlichen Alltagsgeschäft abringen. Was er aber offensichtlich ganz passabel hinbekam. Auch die republikanische Nachwelt wird ihn kaum einen Finsterling nennen können. So hat er zum Beispiel Richard Wagner um Mitarbeit bei der Instrumentierung seiner immerhin von Franz Liszt 1854 in Gotha uraufgeführten Oper gebeten. Damals dürften die Behörden in Dresden, denen der damals aufmüpfige Wagner durch die Lappen gegangen war, nicht begeistert darüber gewesen sein. Was man an Biografischem über ihn so auf den ersten Zugriff erfährt, schreckt also keineswegs ab, sondern macht eher neugierig.
In das Wirken des Komponisten Ernst II. bekommt man nun in Meiningen einen Einblick. Sein Ehrgeiz ging jedenfalls deutlich weiter, als bis zu ein wenig Flöte spielen – er kannte sich im Metier aus und meinte es ernst. Sein Hauptberuf hat ihm dabei – so weiß man heute – eher behindert, als genützt. Der Erfolg, den er mit „Santa Chiara“ hatte, gibt ihm aber recht. Selbst wenn heute das Verschwinden des Werkes (1927 ist die letzte Vorstellung in Gotha nachgewiesen) eher einleuchtet, als verwundert. Was nicht nur an der Übermacht Richard Wagners liegt – zumindest Webers „Freischütz“ erfreut sich auch heute eines regen Bühnenlebens und hat sogar den Ruf einer „Nationaloper“ erhalten.
Spannender Mix aus Altbekanntem
Nach diesem „Freischütz“ klingt es beim Herzog denn auch ziemlich oft. Aber auch nach etlichen anderen Quellen, die in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts en vouge waren. Auch Liebhaber der Musik von Marschner, Lortzing oder Donizetti würden fündig werden, wenn sie suchen würden. Neben Wagner ist aber auch dessen Lieblingsgegner Meyerbeer einer der Elefanten, die mit im Raum zu hören sind. Wer sich jetzt zu einem beherzten „Na und?“ aufraffen kann, der kann an diesem Wechselspiel durchaus seine Freude haben. Zumal die Hofkapelle unter Leitung ihres Generalmusikdirektors Philippe Bach sich offenbar zu dieser Entdeckerlust entschlossen hat. Man kennt Nichts wirklich und doch ist irgendwie bekannt – mit dieser Haltung hat man sein Vergnügen an dem Abend.
Und man kommt gut über die verstiegene Zeitgeistigkeit des Librettos von Charlotte Birch-Pfeiffer hinweg, die sich mit dem damaligen Bedürfnis nach Aufregendem aus dem Nähkästchen des Adels gut auskannte: Inspiriert vom tragischen Schicksal der historischen Prinzessin Charlotte Christine von Wolfenbüttel, die nur 21 Jahre alt wurde, macht die Librettistin aus den Legenden, die sich um ihr bedauernswertes Schicksal rankten, eine Opernvorlage aus der Kategorie „starker Tobak“. Bei dieser seltsamen Heiligen ist der Blick – gleichsam von außen – deutlich geschärfter. Dass ein politisch „eingekaufter“ personeller Import bei den Zaren nichts zu lachen hatte, kennt man aus den frühen Jahren von Katharina der Großen zur Genüge. Hier hat die junge Prinzessin jedoch keine echte Chance. Sie wird dem missratenen Sprössling von Peter dem Großen und dessen Ausschweifungen zum Fraß vorgeworfen.
Historisch, aber nicht langweilig
Regisseur Hendrik Müller bringt das Personal mit der Mätresse des Juniors und einer Queen Mum auf den Stand heutiger royaler Ikonographie. Er und sein Bühnenbildner Marc Weeger bleiben überhaupt zeitlich im exemplarisch Ungefähren. Historisches wird in den Kostümen von Katharina Heistinger nacherfunden. All das trägt zur notwendigen Distanz der Szenen in den angedeuteten Räumen des Zarenpalastes bei.
Obwohl durchaus wachsam und auch nicht ohne Sympathisanten, ja Verehrern landet Charlotte vergiftet im Sarg. Für das nunmehr erforderliche Wunder und den Übergang zu ihrem zweiten Leben (nach der Pause) greift ein etwas reifer Jesus persönlich ein. Jedenfalls treffen wir die Bedrängte als eine Heilige wieder, die offenbar gut im Geschäft ist. Zu den salbungsvollen Worten gibt es inszenierte Massenheilungen ihrer Anhänger. Allesamt, egal ob Mann oder Frau, in einem weißen Brautkleid. Und das alles in einer Zirkusmanege. Hier spielt auch das Finale, zu dem sich sowohl ihr Verehrer Viktor, als auch der mörderische, inzwischen völlig abgedrehte Gatte einfinden.
Immerhin: es ist viel los auf der Bühne und im Graben. Um mal etwas zu Kalauern: Sie singen allesamt fürstlich. Es ist grandios wie Lena Kutzner sowohl das Entsetzen über die Zustände am Zarenhof, als auch das dominante Charisma ausspielt, mit dem sie ihre „Gemeinde“ als Unternehmen führt. An ihrer Seite brillieren Marianne Schechtel als Vertraute Bertha ebenso wie Patrick Vogel als ihr tenorschmachtender undschmetternder Verehrer Viktor de St. Auban. Auf der anderen Seite ist auch der Wahnsinn des Zarewitsch bei Johannes Mooser gut aufgehoben.
Sicher wird die Musikgeschichte des 19. Jahrhunderts nicht neu geschrieben werden – aber Meiningen bietet einen interessanten Ausflug genau dorthin, ohne dass man gleich im Museum landet.
Ein Mitschnitt der Premiere wird am 2. April, 19.05 Uhr bei Deutschlandfunk Kultur übertragen.