Krieg in der Bibliothek: Susanne Burkhard (l.) und Maria Lehberg

Von Büchern und Menschen

Noah Haidle: Kissyface

Theater:Theater Oberhausen, Premiere:29.09.2022 (UA)Regie:Kathrin Mädler

Gestern morgen sah ich in Köln auf ein Video-Display auf der Zwischenebene in der U-Bahn, das mir folgende Schätzfrage stellte: Wieviele Deutsche lesen mehrmals pro Woche Bücher? Die Antwort: 12,9 Prozent, wobei allenfalls im schnell verschwindenden Kleingedruckten zu lesen war, wie diese Zahl ermittelt wurde. Nicht nur vor diesem Hintergrund ist „Kissyface“ von Noah Haidle ein optimistisches Stück. Es spielt in der Bibliothek einer High School, die immer wieder als Ort der „Stille und Sicherheit“ und sogar als Ort des „Weltwissens“ tituliert wird. Und Mrs. Peters, die Bibliothekarin, glaubt genau das. Dass die Welt, in der zurzeit so viele schreckliche Dinge geschehen, nur dann wieder aufs rechte Gleis kommt, wenn alle Menschen lernen, ihren eigenen Verstand zu selbstständigem Denken zu benutzen.

Das ist natürlich ein gewaltiges, hochmoralisches Ideal. Aber es ist andererseits noch gar nicht lange her, dass es hierzulande gesellschaftlicher Konsens – oder zumindest salonfähig – war, das selbstständige Denken des Individuums als notwendige Grundlage jeder wirklichen Demokratie zu begreifen. Haben nicht dafür die 68er gestritten, bevor der lange Marsch durch die Institutionen sie desillusioniert oder mit Karrieren versehen hat?

Entsetzen über Donald Trump

„Kissyface“ ist, das spürt man deutlich, aus Entsetzen über die gesellschaftlichen Verwerfungen während der Präsidentschaft von Donald Trump entstanden. Diese spiegeln sich auch im Uraufführungsbühnenbild von Mareike Delaquis Porschka im Studio des Theaters Oberhausen wider. Da stehen schiefe Regale, aus denen die Bücher nur wie durch ein Wunder nicht herausfallen. Um sie herum sitzt das Publikum, in der Mitte, am Bibliothekarspult, sitzt Mrs. Peters staubbedeckt und sortiert, stempelt und liebkost Bücher. Nach und nach beginnt das Spiel, das vielleicht am ehesten als hochmoralische Farce zu bezeichnen ist. Zumindest hat es die neue Oberhausener Intendantin Kathrin Mädler so inszeniert, wesentlich unterstützt von Cico Becks knalligen Sounds. Da kommt Schuldirektor Overstreet in Gestalt von Anna Polke ganz repräsentativ herein, mutiert aber bald zum dämonischen Comic-Monster. Overstreet inszeniert einen Krieg zwischen den beiden ortsansässigen High Schools mit dem Ziel, eine Gewaltdiktatur zu etablieren, die durch Zugang zu Wissen und Bildung, durch denkende Menschen gefährdet werde. Deshalb soll die Bibliothekarin sterben, sollen die Bücher verbrannt werden, wird der Turnlehrer (Klaus Zwick) zum Feldherrn und die ehemalige Mathematik-Tutorin (Maria Lehberg) zur willigen Brandstifterin und Henkerin.

Drei Bilderbuch-Teenager und eine empathische Bibliothekarin

Dazu kommt ein wunderbar aus aufeinandergetürmten Klischees erfundenes Dreieck. Maude ist Mrs. Peters‘ Tochter, hat psychische Probleme und wird zur „Kriegsheldin“, die stolz ihre Skalp-Sammlung vorzeigt. Um sie bewerben sich der Analphabet Joey und der gutaussehende Rory, der Kapitän des Football-Teams, der Beau und der Außenseiter. Mit ihnen exerziert Haidle alle denkbaren und undenkbaren An- und Abstoßungsmechanismen von Teenager-Beziehungen durch, gütig, zumindest begütigend begleitet von Mrs. Peters. Ihre unermüdliche Empathieausschüttung geht uns nicht mehr auf die Nerven wie zu Beginn, sondern hat begonnen, uns zu berühren, ein Verdienst der sensibel und sehr genau gestaltenden Susanne Burkhard. Nadja Bruder ist als Maude ist so authentisch naiv und energiegeladen, Elias Baumann spielt Rory so umwerfend durchschnittlich und David Laus Joey kämpft so geduldig gegen seine Benachteiligung an, dass wir sie alle drei liebgewinnen. Das kann einem bekanntlich mit Noah Haidles Figuren immer wieder geschehen. Es ist die Stärke seiner Stücke. Vor allem, weil nie Kitsch draus wird, stets ein Rest Distanz gehalten wird, sanfte, liebevolle Ironie immer mitschwingt.

So lassen wir uns auch in Oberhausen gerne ein auf diese Welt, die durch einen kleinen Amoklauf der Bibliothekarin vor dem Schlimmsten bewahrt wird. Wir freuen uns daran, dass hier jemand unermüdlich an die Schönheit und Heilkraft von Sprache und Literatur glaubt. Da wird ein Rilke-Gedicht („Lösch mir die Augen aus“) fast zur Medizin. Und nach einer halben Stunde werden Buchtitel heruntergebetet, wie uns das Programmheft sagt, Hausgötter des Ensembles, von „Krieg und Frieden“ und Goethes Gesamtausgabe bis Alice Munroe und J.K. Rowling. Und dann, das verwundert eher, geht es auch noch um Gott. Maude interpretiert ihre Orientierungslosigkeit als sein Schweigen. Und wünscht ihn sich als Gesprächspartner. Nachdem sie ihm gemeinsam mit ihren Freunden einen neuen Namen gegeben hat, nämlich den Stücktitel, fällt ihr ein Blatt Papier vor die Füße – was ja in einer Bibliothek schon mal passiert – und der neue Dialog ist eröffnet.

Abgeschnittene Finger und Lebenswirklichkeit

Also alles gut? Es gibt durchaus kleine Durststrecken in diesen pausenlosen 110 Minuten und das eine oder andere Rätsel. Warum etwa rezitiert die sterbende Tutorin Macbeths großen nihilistischen Monolog, den sie offensichtlich nicht verstanden hat? Warum sehen die Lebenden wie Zombies aus, mit ihren merkwürdigen Frisuren und rot unterlaufenen Augen? Sind sie in Wirklichkeit Geister, die die Daseinsberechtigung der Bibliothek verteidigen? Aber wie passt es dazu, dass die Toten irgendwann einfach aufstehen und weggehen? Und muss man sich ausdenken, wie man halbwegs glaubwürdig Finger abschneidet und mit Blutsauce panschen, um eine Atmosphäre der Gewalt zu erzeugen und/oder zu ironisieren? Zerkleinert man so auf der Bühne nicht doch auch das Grauen?

Letztlich aber, und darauf kommt es an, holen uns Noah Haidle und Kathrin Mädler mit „Kissyface“ tatsächlich in unserer eigenen Lebenswirklichkeit ab. Dieser Theaterabend überhöht, moralisiert, scherzt und appelliert: Steht auf und lasst nicht alles mit euch machen. Und er erzählt eine absurde, rührende Geschichte. Das ist durchaus eine Menge – zumindest für uns 12,9 Prozent. Vielleicht kommt ja das eine oder andere Zehntel doch wieder dazu. Etwa, wenn das Stück nachgespielt wird. Was unbedingt zu wünschen ist.