Szene aus "Dat Leven vun de Liven"

Vom Wind verwehte Wörter

Helge Schmidt und Team: Dat Leven vun de Liven

Theater:Lichthof Theater, Premiere:24.02.2023 (UA)Regie:Helge SchmidtKomponist(in):Frieder Hepting

Plattdeutsch auf einer Hamburger Bühne, aber ausnahmsweise nicht im Ohnsorg Theater: Für die Uraufführung  von „Dat Leven vun de Liven“ kooperierte das Traditionshaus erstmals mit dem Lichthof Theater, einem Spielort der freien Szene. Das multimediale Treffen inszenierte FAUST-Preisträger Helge Schmidt – und damit gelingt ihm die Zusammenführung von mehr als nur zwei Welten.

„Ein Tisch ist ein Tisch“ – oder? In Peter Bichsels bekannter Kurzgeschichte benennt ein alter Mann die alltäglichen Dinge um ihn herum eines Tages einfach anders: Zum Bett sagt er Bild, zum Stuhl fortan Wecker. Folglich steht er morgens aus dem Bild auf und setzt sich auf den Wecker. „Der Mann fand das lustig, und er übte den ganzen Tag und prägte sich die neuen Wörter ein“, so schreibt Bichsel. Auch das Publikum findet die absurde Umbenennung witzig. Erst recht, wenn sie Ohnsorg-Star Erkki Hopf auf platt vorträgt: „De Mann funn dat lustig, un he ööv den helen Dag lang un mark sik de ne’en Wöör.“ Doch bald wird klar, dass es eher um eine Dimension von der Aussagekraft eines (im Stück allerdings nicht zitierten) Satzes von Ludwig Wittgenstein geht: „Die Grenzen meiner Sprache bedeuten die Grenzen meiner Welt.“

„Dat Leven vun de Liven“ erzählt von den Liven, einer Volksgruppe in Lettland. Heute leben nur noch ungefähr 200 Menschen in wenigen Dörfern an der Ostsee. Mit ihnen wird also auch ihre Sprache aussterben: Livisch. Ein ähnliches Schicksal könnte auch dem Plattdeutschen drohen. Und so werden an diesem Abend beide Sprachen bewusst lebendig gehalten, neben kurzen Ausflügen ins Englische, Arabische und Hochdeutsche.

Gefühle für Sprachen entwickeln

Auf der mit Stoff ausgekleideten Rückwand unterbrechen projizierte Filmsequenzen das Live-Spiel, darin erzählen Liven in englischer (!) Sprache von der Bedeutung des Livischen für ihre Identität und das Lebensgefühl – und wie unwichtig es sei, was in irgendeinem Pass stehe. „Nationen kommen und gehen. Aber ich fühle mich wie eine Livin“, sagt Baiba Šuvcāne, Leiterin des Livonischen Gemeindehauses, in einem berührenden Video-Porträt.

Weitere Zeitgenossen kommen in filmischen Dokumentationen zu Wort, jeweils abwechselnd mit den vier Darstellenden im Bühnenraum, neben Erkki Hopf sind das Birte Kretschmer, Cem Lukas Yeginer und Lamis Ammar. Sie erhellen die grundlegende Fragestellung mit Vergleichen: Was passiert mit der Welt, wenn Pflanzen, Tiere und Sprachen aussterben? Brauchen wir den Mosel-Apollo-Falter – Inbegriff bedrohter Schmetterlingsarten? Die Antwort gibt das Stück durch eine geschickte Textauswahl, die sich collagenhaft sinnvoll zusammenfügt. Dabei vertragen sich Zitate aus der Bibel bestens mit solchen von Dörte Hansen, Ray Bradbury und Mithu Sanyal.

Die gewollt aufgesetzten Verkleidungen der Spielenden hätte es nicht gebraucht. Auch, dass – als Hommage an das ehemalige Volk der Fischer – ein Boot zusammengesetzt und dann, weil nicht mehr gebraucht, umgedreht wird, wirkt eher bemüht. Nach einer Stunde Spielzeit bleiben besonders die Sätze der Liven in Erinnerung, wie jene des Komponisten und Dirigenten Ģirts Gailītis, der über seine Muttersprache sagt: „Man muss kurze Wörter benutzen, denn lange Wörter wehen mit dem Wind davon.“ Seine Worte hallen indes noch deutlich nach.