Acht Stunden Peer Gynt: Vegard Vinge und Ida Müller sind zurück und erzählen an der Volksbühne Berlin den Ibsen-Klassiker als Coming-of-Age Geschichte im 20. Jahrhundert. Pseudo-provokatives Pinkel- und Masturbationstheater, das bessere Zeiten gesehen hat.
Vegard Vinge ist beleidigt. Die Volksbühne hat ihm vorgeschrieben, dass nach acht Stunden Schluss sein muss. Arbeitsrecht – damit muss man dem norwegischen Extrem-Performer gar nicht erst kommen. Schließlich geht’s um Kunst! „Heute: Sicherheit und Bühnentechnik“ schreibt er deshalb mit weißer Farbe auf den Plastikvorhang auf der Bühne. Und jammert: „Acht Stunden sind doch kein Theater!“
Selbst bei seinem Signature-Move, dem Trick, sich selbst in den Mund zu pinkeln, zitiert er die Vorschriften: „Aber kein Tropfen in den Zuschauerraum!“ Und wenn er den Techniker:innen auf der Bühne die Füße küsst, muss man das wohl eher als ironische Geste verstehen: Sicherheit und Bühnentechnik ins Zentrum! Ja, die Zeiten haben sich geändert. Kein Techniker mehr, der riskieren möchte, von Vinge (wie geschehen) mit einem Feuerlöscher attackiert zu werden. Kein Theater mehr, das sich die Sitze einkoten oder herausreißen lassen möchte. Ein Problem fürs Vinge-Totaltheater, denn das ist immer noch das alte.
Körpersäfte, Schmerz und Gummimasken-Tradition
Zuletzt war das Duo zwar in die Schlagzeilen geraten, weil es die Interimsintendanz an der Volksbühne Ende 2024 wieder abgesagt hatte. In die Boulevard-Presse schaffte es Vinge vor 15 Jahren allerdings, weil er sich gern selbst in den Mund pinkelt, mit seinen Exkrementen Bilder malt und Zuschauerbänke einreißt. Ihre letzte Inszenierung in Deutschland ist acht Jahre her. Damals begeisterten sie mit ihrem zwölfstündigen „Nationaltheater Reinickendorf“ bei den Berliner Festspielen, wo sie die großen Klassiker der Dramengeschichte anspielten und mit zündenden Bildern versahen. Natürlich nicht ohne Körpersäfte, Schmerz, Gummimasken und Video. Und nicht, ohne den Kulturbetrieb und das Publikum vorzuführen, dem für einen Euro ein frisches Vinge-Kothäufchen angedreht wurde.
Nun also Ibsens Klassiker „Peer Gynt“, in Vinges Heimat Norwegen ein Nationalheld wie Goethes „Faust“. Wie immer arbeitet sich das Team erstaunlich dicht am Drama ab. In Motiven und Szenen, die auf ein paar Worte verkürzt und ewig wiederholt werden, oft in parallelen Live-Video-Einspielern auf mehreren Bühnenwänden. „Peer Gynt“ ist ein Vingesches Paradestück: Der narzisstische Träumer, zwischen Einsamkeit, Gewalt und Größenwahn – eine typische Figur im Vinge-Müller-Kosmos.
Peer Gynt als Kind der 1980er
Auf der Bühne steht dieselbe Figur, die vor acht Jahren schon als Hamlet-Interpretation gedient hat: ein Teenager im Joy-Division-Shirt, der depressiv im Jugendzimmer an die Decke starrt, während Madonna auf dem Plattenteller kreist und Spiderman-Comics neben Nietzsche im Regal stehen. Diesmal wächst dieses Kind der 1980er Jahre in einer amerikanischen Großstadt auf: Video-Store-Reklame prangt über den heruntergekommenen Häusern, eine Coca-Cola-Reklame leuchtet wie in Frank Castorfs kapitalismuskritischen Klassikern.

Die schrill bunte Bühnenwelt von Ida Müller. Foto: Julian Röder
Peer Gynt lebt mit seiner Mutter, einem übel fauchenden und jaulenden Hausdrachen, in Armut, der Briefkasten quillt mit Inkasso-Schreiben über. Und das alleinerziehende Muttertier vermöbelt Peer, bis er blutend in der Ecke liegt. Weil er immer lügt. Aus dem Opfer Peer wird schnell selbst ein Schläger in dieser Coming-of-Age-Geschichte. Ein New Yorker Polizist drischt auf ihn ein, irgendwann marschieren die Soldaten und Franz Beckenbauer wird eingespielt, um einen Dritten Weltkrieg vorzubereiten, den die Deutschen endlich mal gewinnen wollen.
Eine Menge Zeitgeschichte der letzten 50 Jahre. Derweil drängt sich die Interpretation auf, dass sich Peer Gynt schlicht in die Filme und Opern hineinträumt, die er konsumiert: Kriegsfilme, „Der Pate“, „La Traviata“, „Don Giovanni“. Fassbinders „Angst essen Seele auf“, die Geschichte der deutschen Frau, die sich in den deutlich jüngeren Gastarbeiter verliebt, wird für Peers Mutter passend gemacht. Überhaupt ist das Mutter-Sohn-Verhältnis zentral. Lustig ist das zuweilen schon, wenn etwa die verarmte Mutter ihren „Gernegroß“-Sohn mit Kartoffeln bewirft, die der mit einem Küchenmesser im Flug in Zwei teilt. Wenn sie nicht seinen Kopf treffen.
Prollige Clockwork-Orange-Ästhetik
Dazu passen die schrillen Comics, die Ida Müller ins Foyer gemalt hat: Rocky, Rambo, Top Gun, Pulp Fiction. Nur, dass Uma Thurman hier als Hedda Gabler im Bett Hitlers „Mein Kampf“ liest. Macht, Berühmtheit, Diktatur liegen nah beieinander. Und Peer Gynt wird in seinem imaginierten Reich, dem „Gyntiania“, wie es in Leuchtlettern über der Bühne prangt, zum Superhelden.
An Aktualitätsverweisen mangelt es nicht: Der Ibsensche Trollkönig mutiert zum Pharma- Boss, mit dem ein blutiger Pakt geschlossen wird. Zuletzt ruft jemand: „Zur Hölle mit den Lügen, zur Hölle mit der Kunst“. Kunst geht schließlich nicht ohne Ausgedachtes.
Doch die prollige Clockwork-Orange-Ästhetik, die das Team in weißen Comic-Gummimasken auch diesmal auf die Bühne stellt, wirkt völlig aus der Zeit gefallen. Wer sich von Körperflüssigkeiten heutzutage noch provozieren lässt, der kann sich über verstümmelte Plastikgenitalien, masturbierende und auf Frauenbusen ejakulierende Performer (ein Kraftakt, bei dem man den verzweifelt rubbelnden jungen Mann eher bedauern muss) und blutige Tampons aufregen.
Schwerer auszuhalten sind die verzerrten, schrillen, verstärkten Stimmen der Performer:innen, die in voller Lautstärke wie in einem überdrehten Comic acht Stunden aufs Trommelfell einhämmern – und kaum ein Wort verstehbar werden lassen. Von der poetischen Kraft, die dieses Theater einmal ausstrahlte, auf unterschiedlichen Temperaturen, ist nicht viel mehr als Testosteron, Gewalt, nackte Pimmel und narzisstisches, männliches Figurenpersonal geblieben. Wie aus der Retrokiste des Theaters der 1990er und 2000er Jahre. War das nicht schon eingemottet?
Die schrill bunten Bühnenwelten von Ida Müller, die hinter jedem Bühnenbild noch eines und noch eines aufpoppen lassen, sind zwar genial. Im Gesamtpaket mit dem Aggro-Bühnenpersonal, den aufgewärmten szenischen Ideen, den völlig darniederliegenden Frauenfiguren, die hier neben der alten Mutterhexe höchstens als Sexpuppen herhalten dürfen, und der großen Selbstreferenzialität (ohne Textkenntnis hat man keine Chance) ist das: reichlich ermüdend.
Nach acht Stunden ist Vinge schließlich in Akt Zwei angekommen. Fortsetzung folgt in den nächsten Aufführungen. Wer’s braucht.

Die Figuren mit weißen Comic-Gummimasken. Foto: Julian Röder