Am Abgrund

Volkes Stimme

Richard Wagner: Lohengrin

Theater:Oper Stuttgart, Premiere:29.09.2018Regie:Arpad SchillingMusikalische Leitung:Cornelius meister

Ein „Lohengrin“ aus Sicht der Masse Mensch: Arpad Schilling inszeniert begeisternd zum Beginn der Intendanz von Viktor Schoner in Stuttgart.

Gottfried kommt nicht zurück. Lohengrin versinkt nicht im Gebet, er befreit Elsas kleinen Bruder, dessen Verschwinden ja eigentlich die Handlung erst auslöst, nicht von der Schwanengestalt. Und kein pubertierender Junge übernimmt, vom Schwanenritter mit Horn, Schwert und Ring ausgezeichnet, die Herrschaft über die und den Schutz der Brabanter.

Der Regisseur Arpad Schilling glaubt nicht daran, dass ein Volk durch ein Wunder gerettet werden kann. Er glaubt aber wohl daran, dass ein tragisches Ereignis – wie Gottfrieds Verschwinden – ein Volk lähmen, ja geradezu traumatisieren kann. Und deshalb, und wohl auch, weil Arpad Schilling Ungar ist und mit ansehen muss, wie hilflos sein Volk einem Viktor Orban gegenüber agiert, ist das Volk der Brabanter der eigentliche Protagonist dieser außergewöhnlichen Aufführung. Alle männlichen Figuren werden nahezu ausschließlich über ihre Beziehung zur Masse Mensch definiert. Der Heerrufer etwa, von Shigeo Ishino klangsinnlich und differenziert wie selten gesungen, trägt Smoking, fühlt sich der Menge überlegen und meidet sie. Telramund, dem Martin Gantner mit überraschend hellem Bariton, viel Durchschlagskraft und noch mehr Gesangskultur auch musikalisch keine Nuance schuldig bleibt, ist ein klassischer Primus inter Pares, eine Art Gewerkschaftschef,  der vergessen hat, wo er herkommt. Er ist beliebt, aber er erreicht die Menschen nicht mehr. König Heinrich dagegen sehr wohl. Ironisch seziert Schilling den Herrscher, gestützt durch die musikalische Anlage der Figur. Der souverän singende Goran Juric spielt ein Chamäleon. Dieser König hört genau ins Volk hinein, damit er es stets auf seiner Seite hat, genauer: sich auf seine Seite stellen kann.

Und Lohengrin? „Woher kommst du?“, fragt das Produktionsplakat der Stuttgarter Oper. Die Frage wird zum zweiten Zentrum der Aufführung. Der Retter scheint hier direkt aus der Sehnsucht des Volkes geboren zu sein. Er sieht aus wie ein normaler Brabanter. Aus dem Chor wird ihm ein niedlicher Plüschschwan zugeworfen und fertig ist der Schwanenritter. Das Dingsymbol wird zur Marke, mit der sich spielen lässt. Das Duell mit Telramund gewinnt dieser Held einfach dadurch, dass sich das Volk auf seine Seite stellt. Ein Kampf im engeren Sinne erscheint unnötig. Passend dazu singt und spielt Michael König einen überforderten Krisenmanager, großartig im oft so öden Brautgemach. Lohengrin ist hier ganz mit seiner Doppelexistenz als Mensch und Mythos beschäftigt und sucht Vergessen im Körperlichen, aber Elsa hängt noch in der Verarbeitung des Wunders fest, dem sie ihre Rettung verdankt. Es war ja auch erst heute Morgen. Man glaubt ihr auch, weil Simone Schneider sie so herrlich singt. Nach etwas tastendem Beginn macht sie ihre erste Elsa mit sinnlich leuchtendem Timbre, feiner Phrasierung und reinster Intonation zum Zentrum der Figurenkonstellation. Auch ihr Gegenüber ist eine Rollendebutantin: Okka von der Dameraus Ortrud ist in mehrfacher Hinsicht eine Außenseiterin. Ihr ist das Volk genauso egal wie die in „Lohengrin“ ja bekanntlich extrem festgeklopfte Geschlechterhierarchie. Ihr geht es um Land, Herrschaft und sich selbst. In dieser Reihenfolge. Es ist das Verdienst der subtil, wortdeutlich und, wo es nötig ist, expansiv gestaltenden Interpretin, dass uns diese Figur trotzdem interessiert, sogar fasziniert. Was auch am warmen Timbre dieser wunderbar gesunden Stimme liegt.

Mit atemloser Spannung sehen die Choristinnen und Choristen diesen Figuren zu. Mit atemloser Spannung sehen und hören wir Zuschauerinnen und Zuschauer den Choristinnen und Choristen bei der Arbeit zu. Die ist nicht nur musikalisch ungeheuer präzise und differenziert, sie wird auch getragen von der Lust an der Zusammenarbeit, vom Vergnügen am Spiel. Dieser Chor hat einfach etwas zu sagen.

Und damit all das nicht verloren geht, hat Raimund Orfeo Voigt einen Raum entworfen, der alles aufnimmt, aber nichts verhüllt. Eine schwarz ummantelte Plattform mündet nach hinten in einen mal hell, meistens dunkel drohenden Abgrund. Kein Balkon, kein Münster, keine Stoffbahnen. Nichts als das unvermeidliche Brautbett im dritten Akt, ein Koffer für Ortrud und ein Haufen Schwäne. Auch das Licht von Tamás Bányai gestaltet eher subtil, hält sich mit großen Effekten vornehm zurück. Farbtupfer setzen einzig die heutigen Kostüme von Tina Kloempken, und zwar von Akt zu Akt mehr. Die Menschen fühlen sich beschirmt und reagieren fröhlicher und freier.

Auch das Staatsorchester Stuttgart hat in das Lob mit einbezogen zu werden, spielt von Anfang an mit viel Brillanz und noch mehr Elan. Im Vorspiel scheint  sich der neue GMD Cornelius Meister noch nicht entschieden zu haben, ob er dem berühmten metaphysischen Ideal aus Blau und Silber nachstreben, oder einfach Theatermusik machen möchte. Auch im ersten Akt, fehlt es hier und da noch an Kontur. Ab dem zweiten Akt haben Stück, Inszenierung, Dirigent und Orchester zu wunderbarer Symbiose zusammengefunden. Jetzt stimmt alles, befördert der Klang das Handlungsgeschehen, hallen die Seelen im Graben wider.

Und die großartige Inszenierung, die nur an Anfang und Ende des zweiten Aktes kurz in die Konvention abgleitet, beschenkt uns zusätzlich mit vielen unspektakulären Schönheiten wie die Choreographie der Trompeter oder die charmante Art und Weise, mit der der Hochzeitschor das Ehebett „besetzt“. Und Arpad Schilling erfindet ein kräftiges, stimmiges Schlussbild. Wie gesagt: kein Gottfried. Da greift sich Ortrud den ersten besten Brabanter. Den soll Elsa nun heiraten, damit das Volk seine Ruhe hat. Aber die hält der unerbittlich auf sie zurückenden Menge ein Messer entgegen. Sie hat genug davon, Herrscher, Opfer, vor allem: Objekt zu sein.

Was wird nun mit den Menschen? Diese Frage steht im Raum am Ende der Inszenierung, mit der Viktor Schoner seine Intendanz an der Stuttgarter Oper beginnt. Eine relevante Frage zweifellos. Und großartig gestellt.