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Völkermord und Kunst

Mario Portmann: Das Märchen vom letzten Gedanken

Theater:Theater Konstanz, Premiere:21.03.2014 (UA)Vorlage:Edgar HilsenrathRegie:Mario Portmann

Man sollte sich vielleicht freuen, wenn das Theater über die Rampe hinaus Wirkung erzielt: Endlich mal wieder Relevanz statt Selbstreferenz! Christoph Nix, der Intendant des Konstanzer Theaters, wird Ähnliches empfunden haben, als er vor der Premiere der jüngsten Uraufführung an seinem Haus vor den Vorhang trat und einen Brief des türkischen Generalkonsuls Serhat Aksen verlas. Darin ist vom Respekt vor der Freiheit der Kunst die Rede, aber auch von der Haltung der Türkei den Armeniern gegenüber, die aus türkischer Sicht zwar vertrieben, aber nicht vorsätzlich vernichtet worden sind: Ein Genozid sei völkerrechtlich nie bestätigt worden – weswegen es um die Frage einen „akademischen“ Streit gebe. Anlass für diese vorauseilende Reaktion war die Dramatisierung von Edgar Hilsenraths Roman „Das Märchen vom letzten Gedanken“, in dem es um die Ereignisse vom Sommer 1915 in der Osttürkei geht: Massendeportationen mit ungewissem Ziel führten Hunderttausende von Armeniern in den Tod.

Eine Stunde zuvor erlebte das beschaulichen Theater am Bodensee eine Premiere anderer Art: Gut 100 Menschen meist türkischer Abkunft demonstrierten mit türkischen Fahnen und Transparenten gegen die von Regisseur Mario Portmann auch textlich verantwortete Aufführung. Das heißt: weniger gegen die Produktion als gegen das Ankündigungsplakat: Es zeigt die Füße des mit einem Tuch bedeckten ermordeten Journalisten Hrant Dink und die Flagge des von Recep Tayip Erdogan regierten Landes, der mit der Aussage zitiert wird: „In unserer Geschichte wurde kein Völkermord begangen.“ Diese Collage hat offenbar die nationale Ehre so sehr verletzt, dass sich der sehr auf Befriedung des Konflikts bedachte Intendant schon vor der Premiere bereit erklärt hatte, die Plakate aus dem Stadtbild zu entfernen. Nun ja. Ob Nix so weit gehen musste, das auf der Homepage des Theaters bereits veröffentlichte Schreiben des Generalkonsuls zu verlesen, sei dahingestellt. Edgar Hilsenrath reagierte auf seiner Homepage postwendend: „Es gibt keine Diskussion darüber. Es war ein Völkermord.“ Und die Kunst? Sie geriet über der politischen Aufregung fast ins Hintertreffen.

Edgar Hilsenraths komplexer 640-Seiten-Roman, der den Ton eines orientalischen Märchens imitiert, bietet sich nicht unbedingt an für die Bühne. Bis zur Pause des zweieinhalbstündigen Abends fragte man sich, ob nicht einmal mehr der Fall einer vorauseilenden Skandalisierung vorliegen könnte. Denn erzählt wird rückblickend vor allem die Familiengeschichte des in Zürich 1989 im Sterben liegenden Thovma Khatisian, der nie wußte, wer sein Vater war. Dazu holt die Inszenierung weit aus und nähert sich dabei den Riten und Ritualen eines armenischen Dorfs, in das die Politik zunächst nur von fern hereinspielt – jedenfalls in Portmanns Fassung in Theresa Katharina Binders grau gekacheltem Einheitsraum. Andre Peter Rohde trägt als Thovmas Vater Wartan armenische Buchstaben auf dem nackten Oberkörper. Sein Heranwachsen steht im Zentrum des Stücks: die Berufswahl – Dichter – beim „Schekerli-Fest“, seine erste Hochzeit mit Arpine (Alissa Snagowski), ihr Tod während der Schwangerschaft, die Auswanderung nach Amerika, die zweite Heirat mit der aus einem verbrannten Haus nach einem Massaker geretteten Anahit (Friederike Pöschel). Statisch vorgetragen in einem recht mühsamen, archaisierenden Duktus, wird diese Geschichte nur einmal unterbrochen: durch einen historischen Schlenker zu deutschen Stimmen aus Generalität und Politik, die beschämend herumreden um die deutsche Mitverantwortung beim ersten Genozid des 20. Jahrhunderts.

Und dann ist die Erzählung endlich angelangt bei der Schilderung jener allen Völkermorden gemeinsamen Methoden der Grausamkeit: Sündenbock-Propaganda, Herabwürdigung zum Untermenschen, Säuberungswahn, unvorstellbare Gräueltaten. Dass auf den Mord an den Armeniern der an den Juden folgte, wird in der letzten Szene offenbar, die sich „Auschwitz 1944“ zuträgt: Die Seelen eines Türken und eines Armeniers steigen im Rauch der Öfen gen Himmel. Diese Engführung dürfte den Holoaust-Überlebenden Hilsenrath besonders interessiert haben. Das Konstanzer Ensemble schlägt sich mit dem in der kargen Bühnenfassung mitunter spröden „Märchen“ wacker, auch wenn manchmal der Eindruck aufkommt, einer szenischen Lesung zu folgen. Zum politischen Aufreger taugt Portmanns Inszenierung jedenfalls keineswegs. Vielleicht kommt das angekündigte Beiprogramm der Frage näher, warum sich die Türkei fast 100 Jahre nach der Tötung von mindestens einer halben Million Armeniern immer noch so schwer tut, sich dieser dunklen Seite ihrer Geschichte zu stellen.