Foto: Kay Voges Inszenierung von Shakespeares "Hamlet" in Dortmund. Eva Verena Müller © Edi Szekely
Text:Bettina Weber, am 11. September 2014
William Shakespeare, Hamlet, Schauspiel Dortmund, Kay Voges, Daniel Hengst, Eva Verena Müller, Die Deutsche Bühne, Bettina Weber
Im besten Fall nimmt man aus einer Inszenierung etwas mit nach Hause. In diesem Fall ist es eine SMS vom Theater. „Wir danken für deine Daten“ steht darin. Freilich wird dieser Short Message Service nur denjenigen zuteil, die ihre Nummer hergegeben haben, ergo: denjenigen, die zum Ende der Inszenierung bereit waren, einen Kommentar zum Stück über SMS oder Twitter ans Theater zu schicken, wo dieser anonymisiert an die Wand projiziert wurde.
Daten sind nun mal, da hat das Programmheft („Hamlet von A bis Z“) recht, das „Öl des 21. Jahrhunderts“. Und weil in Sachen Überwachung nicht nur in Hamlets Staate Dänemark, sondern auch in unserer realen Welt etwas faul ist, hat der Dortmunder Schauspielintendant Kay Voges eben dieses Thema in den Fokus seiner „Hamlet“-Inszenierung gerückt. Darin übernimmt er von Shakespeare eigentlich nur noch das Handlungsgerüst, um darauf in bombastisch-bunter, (selbst-)ironischer und überdrehter Form eine Geschichte über unser Leben zu erzählen.
Prinz Hamlet ist ein androgyner Teenie im Superman-Kostüm (impulsiv tobend: Eva Verena Müller), sein Vater ein zum Tode verurteilter Menschenrechtler (Sebastian Kuschmann), Claudius ein an die CIA erinnernder „Terror“-Bekämpfer (Carlos Lobo), Ophelia die Schöne im Computerspiel-Kostüm (Bettina Lieder) und Laertes ein Soldat, der eine Pause vom Lärm der Welt fordert (Christoph Jöde). Sie alle sind zwar auf der Bühne, treten jedoch nur in wenigen, exponierten Passagen vor die Videoleinwand, auf der das weitere Geschehen gezeigt wird, welches in einzelnen Szenen (eine stark gekürzte und durcheinandergewürfelte Auswahl aus der Shakespeare-Vorlage) zeitgleich auf der Hinterbühne abgefilmt wird (sodass auch Pia Maria Mackerts hübsche, schräg-bunte Ausstattung weitgehend nur digital zu erahnen ist). Nun ist die Grenzüberschreitung von Theater und Film bei Kay Voges keine Neuigkeit – doch hier ist sie fast provokativ, wenn das Publikum an einem Großteil des Abends die Darsteller nur auf der Leinwand sehen kann. Auf dieser Leinwand spielt sich mit dem Videokonzept von Daniel Hengst, der den Abend erkennbar mitkonstruiert hat, Großartiges ab: Verschiedene Perspektiven, Zeiten und Aufnahmen werden wechselnd verschoben und akkumuliert – technisch absolut versiert und in ästhetischer Hinsicht ziemlich magisch. Dazu pumpt in Überlautstärke die durchdringende Musik von Paul Wallfisch durch den Saal.
Man kann über dieses Theater sicher schimpfen: Es ist bewusst etwas zu laut und zu schrill, und es nimmt mit all seinen überbordenden Formen und Mitteln der Dekonstruktion die Reizüberflutung nicht nur in Kauf, sondern fordert sie geradezu ein. Doch genau darin liegt der Reiz des Abends – in dem Versuch, die zentrale Analogie begreifbar zu machen: Es ist genau diese Überforderung durch die digitalisierte, überwachte Welt, mit der wir im Alltag konfrontiert sind, und die auch Laertes schreiend beschreibt: „Wir reagieren nur noch! Auf den allgegenwärtigen Ansturm simultaner Impulse und Anforderungen.“ In dieser düsteren Welt voller Bits und Bytes ist Fortinbras ein von Polonius (hier als Gehirnwäsche-Arzt) geschaffener Android, und leidenschaftliche Hamlets wie auch liebende Ophelias müssen natürlich ebenso dran glauben wie zu Shakespeares Zeiten. Trotzdem: Unter der Übersteigerung der Mittel, in der Schlag auf Schlag die Effekte herunterkrachen, leidet immer wieder die Verknüpfung der einzelnen Ebenen. Die eingestreuten inhaltlichen Bausteine scheinen mitunter einfach ihren Bezug zur Handlung des Dramas zu verlieren. Dann wirkt auch das starke, leidenschaftliche Ensemble leider manchmal ein wenig verloren.
Theater ist seit jeher politisch, weshalb es auch seit jeher die Diskussion um politisches Theater gibt. Je nach Mode, Persönlichkeit und Zeitgeist war der Tenor mal idealistisch, mal verbissen, mal ablehnend und mal frustriert. Die an das Ende des Abends geschobene „Mausefalle“ ist an diesem Abend eine kurze, historische Debattenzusammenfassung zum Thema, mit Zitaten von Friedrich Schiller bis Thomas Bernhard, und zuletzt mit der Kampfansage: „Wir machen jetzt politisches Theater“. Diese Worte sprechen Rosencrantz und Guildenstern, oder vielmehr: „zwei Schauspieler, formerly known als Rosencrantz and Guildenstern“, ausgestattet mit Lachgas-Stimme und drollig-dämlichen Tierkostümen. Politisch sein oder Nichtsein, das ist hier die Frage. Eine Frage, auf die ja auch das Publikum unmittelbar antworten durfte, mittels digitaler Nachrichten (und live gefilmt von der Kamera, die zuletzt ins Publikum schwenkte). Echter Applaus blieb eine freiwillige Leistung. Chapeau! Wenn Theater und Twitter zusammen funktionieren, dann so. Shakespeares Geschichte aber rückte ganz schön in den Hintergrund. Hallo Zeitgeist. Bye, bye Hamlet.