Foto: Expressionistische Bilder: Christel Mayr und Benedikt Paulun in "Von morgens bis mitternachts" am Theater Ulm © Jochen Klenk/Theater Ulm
Text:Manfred Jahnke, am 24. Mai 2019
In „Von morgens bis mitternachts“ erzählt Georg Kaiser die Geschichte eines Bankkassierers. Ausgelöst von der Handberührung einer Dame aus Florenz bricht er mit seiner kleinbürgerlichen Vergangenheit. Er stiehlt 60.000 Mark, verlässt die Familie, muss aber erfahren, dass die Dame nicht mit ihm durchbrennen will. So macht er sich von W(eimar) auf nach B(erlin), um zuzusehen, wie die Menschen dem Geld hinterherrennen, selbst die „geretteten Seelen“ der Heilsarmee. Der schnöden Belohnung wegen wird er verraten. Am Ende, mit einem Hauch „Ecce homo“ auf den Lippen, erschießt er sich selbst. Die Erkenntnis, dass sich der Mensch erneuern muss, will er eine andere Welt jenseits aller materiellen Ausrichtungen schaffen, könnte ihn heute genauso ereilen wie damals.
Georg Kaiser war in der Weimarer Republik der meistgespielte lebende Autor. „Von morgens bis mitternachts“, 1917 uraufgeführt, ist ein „Schauspiel in zwei Teilen“. Konzipiert als Stationendrama, gilt es als eines der wesentlichen expressionistischen Stücke und besticht insbesondere durch präzise Sprachverwendung. Aber Jasper Brandis setzt in seiner Inszenierung nicht auf die Feinheiten von Kaisers Sprache, sondern konzentriert sich auf Bilder. Gleich zu Beginn dominiert ein linolschnittartig gestalteter Vorhang (Ausstattung: Andreas Freichels), der eine Kassenhalle andeutet. Dazu wählt die Regie merkwürdig im Tempo verzögerte, slapstickartige Auftritte in Kostümen der 20er Jahre Auftritte in einer wunderbar harmlosen Welt, in der sich man sich über den Kleinbürger lustig machen kann. Darüber schweben auf dem Klavier gespielte Töne aus Wagner-Opern. Und das alles nur, um zu zeigen, dass der Kassierer des Fabian Gröver bis zur Erweckung durch die Hand der Dame von Marie Luisa Kerkhoff, als erotische Männerphantasie in das glitzernde Kostüm einer Femme fatale gekleidet, nur in gebückt-devoter Haltung in seinem Raum sitzt. Nicht einmal schaut er auf zu Beginn, spricht kein einziges Wort, klopft stets nur drei Mal auf den Tresen, damit der nächste Kunde erscheinen möge.
Für jede Station erfindet Brandis eine eigene, neue Bildsprache. Einzige Verbindungslinie: Aufzuzeigen, wie winzig, wie verloren Fabian Gröver auf der Bühne steht. Sei es auf dem verschneiten Feld vor dem Video eines gemalten Zweiges, ganz allein in einem Haufen Schnee auf der Riesenbühne oder vor den Riesengesichtern von Mutter (Christel Mayr), Frau (Kerkhoff) und Töchtern (Nicola Schubert und Franziska Maria Pößl), wieder auf Video. Die Bilder sind spannend, aber sie gehen auf Kosten der Sprache, der Erkenntnisprozess des Kassierers bleibt im Undeutlichen, obwohl alles Gesprochene elektronisch verstärkt mit leichtem Nachhall zu hören ist, als Reminiszenz an die Gattung Hörspiel.
Im zweiten Teil dann dominiert ein Holzgerüst, das auf der Drehbühne abwechselnd zum Sportpalast, Ballhaus und Lokal der Heilsarmee wird. Merkwürdigerweise funktioniert die Szene, in der acht gleich gekleidete Herren mit Hut und grotesk überspitzen Bärten auf den Zuschauertribünen beim Sechstagerennen stehen, gar nicht, weil auch hier das Karikaturhafte zu sehr im Vordergrund steht. Die dramatische Situation, die eigentlich die zunehmende Isolation des Kassierers ausstellen soll, kann nicht entstehen. Im Lokal der Heilsarmee, in einer Szene, die sich quälend hinzieht, muss er seinen Zorn auf den „alten Menschen“ in ein Mikro herein- und herausschreien. Da wird Emotion mit Lautstärke verwechselt. Und damit das nicht wehtut, muss dann Gunther Nickles als Polizist in Uniformjacke und –mütze, aber mit Rock und weißen Kniestrümpfen auftreten: So nimmt ein Einfall dem anderen die Wirkung. Das bedrängende Thema wird einfach verlacht. Schade drum. Zumal das Ensemble, zu dem noch Stephan Clemens, Maurizio Miksch, Benedikt Paulun und Lukas Schrenk gehören, die Einfälle der Regie sehr diszipliniert ausspielt.