Versuchsanordnung gegen die Hierarchie

Juliane Klein: ALLEIN

Theater:Klangwerkstatt Berlin, Regie:Holger Müller-BrandesMusikalische Leitung:-

Autonomie und Gemeinschaftlichkeit – keine Gegensätze bei Juliane Klein, die in ihrem im Rahmen des Berliner Neue-Musik-Festivals _Klangwerkstatt_ uraufgeführten Musiktheater „ALLEIN“ sämtliche Konnotationen des Titelbegriffs ins Wanken bringt und seine Widersprüche auflöst oder zumindest sublimiert. Sehr schnell ist klar: Um Unterhaltung geht es hier nicht. Eine konkrete Handlung liegt „ALLEIN“ nicht zugrunde, die dramatis personae – ob man sie hier so nennen möchte, sei dahingestellt – stellen vielmehr schematisch einen universalmenschlichen Prozess dar: Eine Frau, ein Mann und eine Gruppe (Mezzosopranistin Claudia Herr und Bariton Philipp Mayer, Instrumentalisten und Chor) bewegen sich durch neun Szenen, neun Stationen des Alleinseins, über die sich ein lyrischer Bogen spannt von einem frühen zu einem späten Gedicht des Dichters und Arztes Gottfried Benn. Das Glück offenbart sich hier weder in der abgekapselten Autonomie noch in der erfüllten Sehnsucht nach Auflösung des Ichs in der Liebe – oder vielmehr einer imaginierten, projizierten Liebe. Es findet sich stattdessen in der Dialektik beider Begriffe wieder, die sich in einem transzendentalen Zustand des universellen Verbundenseins manifestiert. Suchen, versuchen, zweifeln, verzweifeln, sowie begegnen, verharren und auseinandergehen halten den Prozess in Bewegung.

Schematisch ist ebenso die Ausstattung: nicht Gegenstände, sondern _Raum_ ist das Material, mit dem der Regisseur Holger Müller-Brandes durchaus sinnlich umgeht. Und der allein ist in der Evangelischen Brüdergemeinde Neukölln schon ziemlich ungewöhnlich und ausdrucksstark: Ein großer, hoher Saal aus den 60er Jahren, Fensterfronten bilden die obere Hälfte der Wände, so dass die äußerst wirkungsvoll eingesetzte Beleuchtung teilweise von außen zugefügt wird. Zwei ausladende, einander gegenüberliegende Emporen strukturieren den Raum, und wäre da nicht die kleine Orgel, könnte man leicht vergessen, dass man sich im Kongregationsraum einer christlichen Gemeinde befindet. Dabei spielt eine christliche Grundethik hier keine geringe Rolle, was spätestens in der Abwandlung des 23. Psalms zu „Ich bin mein Hirte, mir fehlt nichts“ in der 6. Szene explizit wird. Als Claudia Herr zu diesen Worten in einem Rausch von Selbstermächtigung auf der Balustrade balanciert, während unten die Menge wuselt, evoziert dieser Spiegel der Vereinsamung des Individuums in der individualisierten modernen Gesellschaft ein zunehmend resigniertes, prekäres Bild.

Der wohl wesentlichste künstlerische Bestandteil des Konzepts ist die „Eliminierung aller Gurus“, wie Juliane Klein es nennt. Gemeint sind damit in ihrer klassischen Funktion der Dirigent, der Regisseur und vor allem der Komponist, bzw. die Komponistin – in letzter Konsequenz steht dahinter nicht zuletzt Kleins eigenes Nich-mehr-komponieren. Denn nicht durch eine präzise musikalische „Marschroute“ kann das entstehen, was in „ALLEIN“ das Kunsterlebnis konstituiert, sondern durch Erlösung davon. So handelt es sich bei der Musik hier auch lediglich um Material, das sie als Ausgangspunkt geliefert hat. Der universalisierenden Idee des Konzepts entsprechend wird dabei der Tonalität ebenso wenig ausgewichen wie dem Geräusch oder der Stille. Sämtliche Impulse kommen von den Musikern und Sängern selber und unterstehen keinerlei Anweisungen des Regisseurs oder Dirigenten – letzteren gibt es in „ALLEIN“ nicht einmal.

Die Enthierarchisierung als Quintessenz des Werks verrät schon allein die „Sitzordnung“ des Publikums: nach allen Seiten ausgerichtet stehen die weißen Kirchenbänke im ganzen Raum verteilt. Nicht nur der „Frontalunterricht“ zwischen Künstler und Publikum ist aufgehoben, sondern überhaupt jede Ausrichtung. Und doch entgeht einem als Zuschauer gar nichts. Im Gegenteil, das Mittendrin erlaubt über das visuell-aktustische Aufnehmen hinaus ein räumliches Erleben ohne kanalisierte Richtungen.

Das Hauptproblem des Konzepts offenbart sich in dem Moment, als die Seitentüren aufgehen und die mit Sängern und Sängerinnen aus Berliner Laienchören besetzten „Zeitgenossen“ eintreten zu dem Worten „Freue Dich“. Was konzeptuell zwar nachvollziehbar und gar notwendig erscheint, tut dem zwischen Sänger und Sängerin entstandenen Zauber einen scharfen Abbruch. Der konkrete Ausdruck von Freude, der hier möglichst unverfälscht zum Ausdruck gebracht werden soll, wirkt leider artifiziell und stellt die künstlerische Gleichsetzung von Profis und Laien in Frage.

Mit diesem Problem öffnet sich auch die Ambivalenz, auf die man stößt bei einer Dekonstruktion des herkömmlichen Musiktheaters mitsamt seinem Regelwerk. Auch das Theater will zwar von grenzsprengenden Erfahrungen leben und stellt sich demnach dieser Kleinschen Konzeption nicht diametral entgegen. Das wirklich Faszinierende aber, so stellt sich heraus, passiert da, wo der zum „Performer“ ausgebildete Künstler auf sich allein zurückfällt, sich quasi ent-bildet – ein Prozess, der beim Laien naturgemäß nicht stattfindet, zumindest nicht in gleicher Weise und vor allem nicht mit derselben Wirkung. Es zeigt sich: Auch die Bühne kann mit all ihren Implikationen unbestreitbar eine gewisse Magie für sich beanspruchen. „ALLEIN“ berührt in diesem Sinne auf konstruktive Weise ein sehr weites, noch lange nicht ergründetes Feld.

Bewegen wir uns aus der konkreten Sphäre in die abstrakte hinein, sieht es wiederum ganz anders aus. Herz und Schlüssel des Konzepts offenbaren sich in einer Szene, die einzig die Anweisung gibt: Mit geschlossenen Augen musizieren. Es ist eine exemplarische Einlösung der Hypothese: Vertrauen in sich selbst ist Vertrauen in alle. Hier, wo nichts dargestellt wird, verschmelzen Individuum und Kollektiv, Laie und Profi, Künstler und Zuschauer tatsächlich perfekt. In minutenlang atmendem Klang geht alles in Raum und Klang auf. Ein luzider Augenblick, gewaltig und intim. Für dieses bewegende Erlebnis nimmt man auch den misslungenen Moment innerhalb dieses mutigen Versuchs in Kauf, der nicht von einem unterhaltenden Kulturbegriff ausgeht, sondern von einem, der künstlerische Bewegkraft und gesellschaftliche Relevanz für sich beansprucht.