Foto: Stefan Margita (Kurfürst, v.) und Robyn Adams in der Titelrolle © Wolf Silveri / Staatsoper Stuttgart
Text:Andreas Falentin, am 18. März 2019
Hans Werner Henzes „Prinz von Homburg“ wird nicht häufig gespielt. Die Musik gilt als spröde, hochkomplex und extrem fordernd, besonders für die Gesangssolisten. Zudem erscheint der Stoff als schwer zugänglich, vor allem wegen des, in Zeiten von Political Correctness hoch brisanten, bewussten Umgangs mit Patriotismus. Dabei hat Ingeborg Bachmann Kleists Dramentext besonders in dieser Hinsicht ge- wie entschärft. Henze und Bachmann, die sich dem „Prinzen“ auf Anregung Luchino Viscontis zuwandten, wollten gerade der aus ihrer Sicht in ihrer Vergangenheit, ihrer geistigen Enge und ihrer Profitsucht gefangenen deutschen Wirtschaftswundergesellschaft eine Staatsidee entgegenstellen, in der Vernunft regieren und Freiheit dennoch herrschen kann.
Es ist eine Stärke von Stephan Kimmigs Stuttgarter Inszenierung, dass er diese Idee konsequent nach heute weiterdenkt. Zur Bewusstmachung scheut er sogar das Plakative nicht und reiht sein großes Ensemble – Henze hat auf einen Chor verzichtet und den acht Solo-Rollen dafür drei „Hofdamen“ und drei „Offiziere“ zugesellt – am Schluss an der Rampe auf. „Welt“, „Wir“ und „Freiheit“ kann man da auf den Oberbekleidungen lesen und auf bunten Schals, die jeder Mitwirkende individuell um sich herum drapiert, scheinen Schlagwörter auf wie „Optimismus“, „Empathie“ oder „Mitgefühl“. Dieses Bild alleine verheißt Gesinnungskitsch, wird aber durch die vorhergehenden zwei Stunden Theater beglaubigt und vor allem stringent aus diesen entwickelt.
Kimmigs Mittel der Wahl hierfür ist eines, das auf unseren Musiktheaterbühnen häufig extrem vernachlässigt wird: die Körperarbeit. Diese Theaterfiguren scheinen während der Handlung ihre Körperlichkeit sogar zu trainieren, manchmal sogar an der Ballettstange. Am Anfang wird der Traum des Prinzen in Armbewegungen und subtile Körperzuckungen übersetzt. Die Figuren gewinnen, manchmal mit fast tanztheatralischer Intensität, menschliche Substanz durch ihre Körper, ihre Haltungen von Kopf und Rumpf, ihre Bewegungsmuster. Und durch die Kostüme von Anja Rabes, die hochintelligent die Entstehungszeit mit heutigem Modebewusstsein verschränken, die Offiziere im Retro-Trainingsanzug ihre Befehle entgegennehmen lassen oder Prinzessin Natalie zum Gesamtkunstwerk machen, mit Existenzialisten-Pullover, Marlene-Anzug, Piaf-Ausstrahlung und roten Boxhandschuhen. Ihre Szenen mit dem Prinzen erhalten so eine sinnlich ausufernde und doch strukturell gebändigte Erotik, genau wie die Szenen des Prinzen mit dem allein durch sein Strizzi-Hütchen vom Rest abgehobenen Grafen Hohenzollern durch die entfesselte Körperarbeit fast Beckett’sche Intensität gewinnen. Nur dass hier die Erfüllung der stetig um sich kreisenden Sehnsüchte noch möglich scheint. So entwickelt diese Inszenierung nach und nach, aus Traum und Krieg, ein utopisches Gesellschaftsbild. Selbstbewusste Menschen handeln aneinander und miteinander, ohne den Eigennutz oder eine abstrakte Staatsräson über Mitmenschlichkeit zu stellen. Im Zentrum dieser Handlung und Idee steht der Kurfürst, ein alter Mann, dessen welker Körper gnadenlos gezeigt wird, über den aber ein klarer, vernünftiger und empathischer Geist herrscht. Stefan Margita zeigt das großartig, ist ungeheuer präsent, artikuliert klar und verschmilzt in seinen Gesangslinien schwerelos schöne Tonkaskaden mit rhetorisch gehärten, wie an der Melodieführung festgetackerten Wortreihen.
Wie überhaupt der Abend von den Sängern lebt, von einem Ensemble, dass sich den ungewöhnlichen Anforderungen des musikalischen Schauspielregisseurs offenbar willig, vielleicht sogar freudig ausgeliefert hat. Seien es die homogen besetzten Hofdamen- und Offiziers-Trios, Friedemann Röhlig als fast buddhistisch ausgeglichener Kottwitz oder die Stuttgart-Veteranen Michael Ebbecke (Dörfling) und Helene Schneidermann (Kurfürstin). Umwerfend, durch Charme wie (Körper-)Präsenz und Koloraturvirtuosität erspielt sich Vera-Lotte Böcker die Prinzessin Natalie. Die Entdeckung des Abends ist dennoch der junge Tenor Moritz Kallenberg als Hohenzollern, der noch dem Opernstudio der Oper Stuttgart angehört: fein timbriert, hochmusikalisch mit bestechender Wortbehandlung und mit gewaltiger Ausstrahlung begabt.
Cornelius Meister gelingt es mit dem Staatsorchester hervorragend, die musikalische Besonderheit von Henzes Komposition heraus zu modellieren. Wir hören eine Musik, die kaum noch eine Verbindung zur Tonalität hält und dennoch nicht wirklich von ihr fortstrebt, einen schwebenden Klang, der durch ins Geräuschhafte spielende Bläserfanfaren, extensiven Einsatz von Schlagwerk und in allen Lagen sichelnde Streicher immer wieder fast brutal gehärtet wird. Allerdings fährt Meister häufig, vor allem im Kriegsbild, den Lautstärkeregler zu schnell zu hoch, so dass es gelegentlich an farblicher Differenzierung fehlt und die großformatigen Ensembles flächig, momentweise fast breiig geraten. Auch Robin Adams in der Titelrolle kommt durch die geforderte Expansion an Grenzen. Sein Bariton ist deutlich lyrisch timbriert, die Eindringlichkeit seines Gesangsvortrags steigt dramatisch mit der Transparenz von Komposition und Dirigat. Seine fast tänzerisch anmutende Körperlichkeit hingegen fasziniert in jedem Moment.
So ist, trotz des gewollt neutralen, aber doch etwas reizarmen Einheitsbühnenbildes von Katja Haß und den rätselhaften, vielleicht der Traumkomponente der Story zugedachten Videos von Rebecca Riedel, in Stuttgart ein spannender, vor allem: sehr ungewöhnlicher Opernabend entstanden. Der zudem geeignet scheint, Henzes Meisterwerk wieder etwas näher ans Repertoire zu führen.