Foto: Malwina Stepien und Brian Scalini Verdis "Don Giovanni" an der Dresdner Semperoper © Semperoper Dresden/Ludwig Olah
Text:Roland H. Dippel, am 23. Oktober 2021
Noch ist in der Dresdner Semperoper nur jede zweite Parkettreihe besetzt. Aber die kurz vor dem ersten Lockdown im März 2020 abgesagte Premiere von „Don Carlo“, eine Koproduktion für die Salzburger Festspiele, fand endlich statt – mit voller Chorbesetzung und vollem Orchestergraben. Peter Ruzicka, der als Osterfestspiele-Intendant die Produktion in Auftrag gegeben hatte und dessen letztes Jahr dort wegen der Corona-Krise im performativen Nichts verebben musste, war gekommen. Anstelle von Christian Thielemann dirigiert nun Ivan Repušić. Diese Umbesetzung stand schon vor Bekanntgabe von Thielemanns Nichtverlängerung als Staatskapellen-Chefdirigent fest.
Auf dem Besetzungszettel steht auch Sonja Nemirova, die bis zu ihrem Tod am 13. August 2020 bei jeder Inszenierung ihrer Tochter unverzichtbare Regie-Mitarbeiterin. Nicht dabei war jedoch die ursprüngliche Besetzung von Elisabetta und Carlo. Anna Netrebko und Yusif Eyvazov glänzten im Corona-Frühsommer 2020 als Ersatz für die entfallene Gesamtproduktion an der Semperoper in einem emotionalen wie skurrilen Intermezzo, das Verdis Hauptwerk auf eine glamouröse Arien-Suite fokussierte.
Diskussionswürdige Erweiterung
In der Termin-Inflation des Musiktheater-Herbstes 2021 konnte es nicht ganz gelingen, den Interesse-Hype auf der ursprünglich pyramidalen Höhe zu halten. Wie oft in der Semperoper gewann die Jubelstimmung am Ende erst langsam an Kraft. Diskussionswürdig geriet die Uraufführung von Manfred Trojahns Orchesterprolog „Blick – Traum – Übergang“ (eine Auftragskomposition als Ersatz für den von Verdi in der Mailänder Fassung 1884 gestrichenen Fontainebleau-Akt) und als weitere Zugabe Trojahns Cello-Stück „Mendelssohns Möwen“ (2012) vor dem ausgedehnten Preludio zu Filippos Monolog.
Egal wie man zur Ergänzung einer als ‚künstlerischer Aufbruch‘ und ‚Meisterwerk‘ gerühmten Partitur mit einer mindestens 140 Jahren jüngeren Musik steht: Die Sache muss Sinn machen. Trojahns Zusätze – der Prolog als Kompositionsauftrag, das Zwischenspiel als Einlage – sind keineswegs zwingend gestaltete Neudeutungen wie etwa die Mahler-Paraphrase in Luciano Berios Sinfonia oder Alfred Schnittkes in Russland polarisierende Bearbeitung von Tschaikowskis „Pique Dame“.
Vielleicht deshalb lehnte sich Vera Nemirova bei Trojahns Beiträgen zurück und überließ das Probenfeld dafür der Choreografin Altea Garrido: Schuhe-Ausziehen bedeutet kurzfristiges Relaxen und emotionale Subversion im Überwachungsstaat – klar und deutlich. Chiara Detscher und Brian Scalini sind in kaltem Weiß das pantomimische Liebespaar, dessen gemeinsame Zukunft der politischen Friedensheirat von Elisabetta mit Carlos Vater Filippo geopfert wird. Die sterilen Figuren erscheinen auch dem sich mit Brutalität in die Einsamkeit wuchtenden Filippo und am Ende mit der visionären Gestalt des abgedankten Carlo V. (Tilmann Rönnebeck).
Bei Trojahns ersten Akkorden reißt es Verdi-erfahrenes Publikum, denn diese klingen wie Bearbeitungsschritte Verdis aus einer bisher verschollenen Fassung. Diese klingen wie Bearbeitungsschritte Verdis aus einer bisher verschollenen Fassung. Trojahn webt aus harmonischen und instrumentalen Motiv-Partikeln Verdis strapazierfähiges Konfektionsleinen. Trotzdem: An den (in dieser Woche ebenfalls verstorbenen) Bernhard Haitink geschätzten langen „Carlo“-Fassungen kommen Trojahns Einlagen nicht heran. Zudem hätte das von Bühnenbildnerin Heike Scheele gezeigte Lilienfeld sowie die spätere Nutzung der Lilien als Dekor von menschlicher Härte und Verwendung als Totenblumen viel besser zum Hoffnungspunkt Fontainebleau der Pariser Erstfassung gepasst. Der größte Vorzug von Trojahns Szenenmusik ist ihre szenisch vielseitig nutzbare Ausdrucksglätte.
Es bleibt blass
Bei Vera Nemirova wird die Ketzerverbrennung zur Bücherverbrennung mit langsam niederzüngelndem Theaterfeuer. Scheeles riesige Bücherwände weichen nach der Pause einem kaltgrauen Repräsentationsraum. Dazu steckt Kostümbildnerin Frauke Schernau Soli und Chor erst in spanische Renaissance-Hoftracht und dann in Gegenwartskleidung. Es geht Nemirova um den unplanbaren Knickmoment, in dem aus politisch instrumentalisierter Bildung moralische Barbarei entsteht. Dazu gelingen ihr teils eindringliche, teils unverbindliche Szenen. Bewegend gerät Filippo als Schöngeist am Cello, der Frauen regelmäßig mit toxischer Gewalt zusetzt. Vitalij Kowaljow ist schizophren mit Härte und seinem berückend zart gesungenen Monolog.
Es herrscht gendernde Objektivität: Frauen reißen mit lüsterner Strafgier Bücher vom Metallkarren und türmen sie zu Scheiterhaufen, Männer stänkern. Carlo und Posa singen ihr Freundschaftscredo aus einer verbotenen Schrift, dazu geht ein weißer Dominikaner durch den Raum. Filippo presst ein altes Buch an sich, als stecke in diesem sein ideologisches Seelenheil. Dann auf dem Vorhang das Heine-Zitat: „Das war ein Vorspiel nur, dort wo man Bücher verbrennt, verbrennt man auch am Ende Menschen.“ Dieses humane Posieren dringt nur langsam zum Herzen, bleibt in der Stadt der Pegida- und Gegendemonstrationen merkwürdig blässlich.
Die Befeuerung kam von wenigen Darstellern – vor allem dem fulminant singenden Bariton Andrei Bondarenko, welchem man als Sympathieträger Posa auch die strategische Gefährlichkeit ansieht. Dinara Alieva hat ein fast so betörend dunkles Timbre wie Anna Netrebko und bewegt sich mit intensivem Ausdruck durch Elisabettas Gefühlskrisen. In der zerrissenen Titelpartie vermag Riccardo Massi nur wenig zu fesseln. Sein sehr italienischer Tenor wirkte wie in einem Tränensee gebadet und dann mit Stimmungsaufheller gecremt. Als Großinquisitor in Rot agiert Alexandros Stavrakakis mit vokaler und szenischer Starre, seine Gefährlichkeit kippt in Marionettenhaftigkeit.
Sind vitale Frauen wirklich so?: Anna Smirnova ist sängerisch die ideale Eboli für Verdis italienische Fassungen, wird allerdings von Nemirova in unlogische Ambivalenz getrieben – und von Filippo erstochen. Die Hofdamen klingen nicht ganz so delikat wie erwartet. So schafft es der Sächsische Staatsopernchor erst mit dem Autodafé auf das vorausgesetzte Qualitätsniveau (Leitung: André Kellinghaus).
Akzeptabler Leistungsnachweis
Ein anderes Dirigat hätte aus Trojahns Appendix, das man in späteren Produktionen auch an der Position des Perlenballetts erproben könnte, vielleicht höhere Sinnfälligkeit entwickelt. Ivan Repušić, als Chefdirigent des Münchner Rundfunkorchesters ein Mann mit großer Verdi-Kompetenz, entprofilierte die sich von Friedrich Schillers dramatischem Gedicht recht weit entfernende Partitur weitgehend entspannt und nutzte alle Vorzüge der Sächsischen Staatskapelle. Die vielen instrumentalen Soli und Verdis imponierende Orchestersprache hat man aber bohrender und eindringlicher in Erinnerung.
So wurde die um 19 Monate verschobene Premiere ein akzeptabler Leistungsnachweis. Der Fontainebleau-Akt, welcher sich inzwischen an fast allen großen Häusern durchgesetzt hat, hätte dem Eigenklang des Dresdner Spitzenorchesters allerdings kongenial geschmeichelt.