Barak Marshall bringt mit „The End“ zu Fanfare Ciocărlias „Moliendo Café“ und „Dusty Road“ das gesamte Uraufführungs-Ensemble auf die Bühne, überzogen im Stile einer TV-Show moderiert.

Und am Ende gab’s Konfetti

Gauthier Dance: The FireWorks Project

Theater:Theaterhaus Stuttgart, Premiere:30.04.2025 (UA)

Zum 40. Bühnenjubiläum bringt das Theaterhaus Stuttgart mit „The FireWorks Project“ zahlreiche Uraufführungen auf die Bühne – kunstvoll aufeinander abgestimmt und dramaturgisch klug aufgebaut. Ergänzt wird das Programm durch Stücke, die in der Vergangenheit großen Anklang fanden und nun zum Jubiläum eine gefeierte Rückkehr erleben.

Üblicherweise nimmt sich Eric Gauthier großzügigere Vorläufe – doch für die Planung von „FireWorks“ blieb ihm diesmal nur ein Jahr. Das verrät der künstlerische Leiter von Gauthier Dance dem Publikum noch vor dem ersten Takt und erinnert zugleich daran, warum dieser Abend überhaupt entstand: Zum Jubiläum soll das Theaterhaus  Stuttgart ein Geschenk zurückbekommen. Seit Jahrzehnten gibt’s hier Musik – von Jazz über Hip-Hop bis Pop. Gauthier listete die musikalischen Gäste der Vergangenheit auf, bat zehn Choreograf:innen je ein Stück zu wählen und daraus einen Tanz zu formen. Herausgekommen ist „The FireWorks Project“, neben Altbewährtem: zwei randvolle Programmhälften, die das Genre-Spektrum der Compagnie ehren.

Tanz mal Zehn

Die erste Sekunde ist ein Trompetenstoß, eine Ouvertüre als kollektive Zündung, passend zum Thema. Barak Marshalls „The Gathering“ zu Fanfare Ciocărlias „Ciocârliă şi suite“ verlegt das Theaterhaus kurzerhand auf einen rumänischen Dorfplatz. Zwei Stuhlreihen säumen den roten Bühnenboden, der an den vor dem Haus erinnert; hinten ragt die rohe Backsteinwand mit ihren Sprossenfenstern und wirkt wie ein leergeräumtes Fabrikloft der rauen Spielstätten des New-Yorker Post-Modern Dance. Da, wo Gauthier Dance neulich erst erfolgreich das Joyce Theatre bespielte. Durch die Scheiben huschen Autoscheinwerfer – draußen herrscht Alltag. Das Tempo der Musik erzwingt rasante Richtungswechsel: das Ensemble formiert zum gemeinsamen „Wir sind hier!“, durchbricht die Diagonalen mit Spreizsprüngen, setzt sich auf die Bänke, feuert sich an – Probenlaune, aber gestochen scharf. Gleich zu Beginn ist klar, worum dieser Jubiläumsabend kreist: Haus, Stadt, Körper atmen im selben Takt.

Der Bruch könnte kaum schärfer sein, wenn Mauro Bigonzettis „Fully Blue“ folgt. Zu Chet Bakers „I’m Old Fashioned“ zeichnen Garazi Perez Oloriz und Shawn Wu ein Pas de deux von schwebender Präzision: Arabesquen ohne Endpunkt, Hebungen, die wie von innen getragen wirken, geschmeidige Pirouetten. Kolleg:innen lehnen sich von den Seitenplätzen vor, als wollten sie jedes Millimeter-Tuning miterleben. Das Duo endet vorn an der Rampe, als behielte es sein Augenzwinkern trotz Bakers samtiger Trompete.

Dominique Dumais mit „Hold me Now“ zu Laurie Andersons „O Superman“

Dominique Dumais mit „Hold me Now“ zu Laurie Andersons „O Superman“. Foto: Jeanette Bak

Dominique Dumais spannt die Intimität nuanciert über ein Kollektiv: „Hold me Now“ zu Laurie Andersons „O Superman“ wird zum Atemnetz. Langarm-Shirts, schwarze Hosen – Gendergrenzen verschwinden. Die Gruppe wogt in Wellen, sackt ab, Finger spreizen ins Nichts, Körper kippen und werden aufgefangen. Zwischen chorischem Gleichklang und eruptiven Soli kommt ein kleiner Aufstand gegen die Monotonie des musikalischen Loops auf: Forsythe-Echo ohne Virtuosenpomp, dafür erdnah, sehnsüchtig nach Berührung.

Szenenwechsel mit Marco Goeckes „Monstruo Grande“, einer vertanzten Mini-Apokalypse. Zwei Tänzer:innen, viel Zucken. Mercedes Sosa beschwört den „monstruo grande“, Goecke antwortet mit Mikro-Kontraktionen: Hände vor den Gesichtern, spitze Ellbogen, ein Hals, der in den Bogen schnellt. Jeder Splitter sitzt, Schmerz wird Ornament, Widerstand Atem. Zwischendurch streift ein Handrücken zart den Nacken des Duopartners – Milde, sofort von dem nächsten Schock durchbrochen. Ein konzentrierter Albtraum, mit chirurgischer Tanzsprache, 100% Goecke.

Marco Goeckes „Monstruo Grande“ mit Sidney Elizabeth Turtschi und Shori Yamamoto.

Marco Goeckes „Monstruo Grande“ mit Sidney Elizabeth Turtschi und Shori Yamamoto. Foto: Jeanette Bak

Groove, Geste, Gefühl

Starchoreograf Benjamin Millepied setzt nach diesem Adrenalinschub auf Groove zu dem gleichnamigen Song „​Hymn to Freedom“ des Oscar Peterson Trios. Bunte Adidas-Tracksuits, weiter Jersey, Jazz-Shuffles tippen den Walking Bass – kein Zufall: Streetwear ist Millepieds Mittel, das elitäre Ballettritual zu erden. Formationen lösen sich, finden sich wieder, Arme legen sich über Schultern, ein stilles Bild von Solidarität – keine hochgereckten Fäuste, eher ein wortloses „We shall overcome“. Nahtlos klappt die Bühne in sepiafarbenes Kino: Sofia Nappis „​CHARLIE“ vertanzt Charles Aznavours italienische „​La bohème“ – Hosenträger, Kniestrümpfe, Barett – eine Erinnerung an Chaplin durch einen 2025er-Körper? Geschmeidige Floor-Slides wechseln mit eingefrorenen Standbildern; Hände formen Ferngläser, in Zeitlupe choreografiert, die am Ende an unermüdlichem Tempo gewinnt. Slapstick verbunden mit einem gewissen Maß an Melancholie und wahnsinnig passenden Kostümen von Gudrun Schretzmeier, die mit ihrer Kunst den gesamten ersten Teil des Abendprogramms in authentischen Stilen bereichert.

Sofia Nappis „CHARLIE“.

Sofia Nappis „CHARLIE“. Foto: Jeanette Bak

Noch ehe der Applaus verhallt, schlagen in Johan Ingers „​A Thousand Thoughts“ schwere Glocken des Kronos Quartet. Die Tänzerinnen Bruna Andrade und Barbara Melo Freire rennen abwechselnd zur Rampe, drehen um, Auge in Auge. Wiederholung. Weite Armkreise, geöffnete Schultern und schließlich ein gemeinsamer Sturz – Füße berühren Füße, ein stummes Versprechen zum Musiktitel „​Tusen Tankar“. Ein Atemzug, die Musik endet und die Glocken sind zurück. Alles auf Anfang von Ingers inszenierter Melancholie. Das Steuer wird herumgerissen von Stijn Celis. „​Thinkin about!“ ist ein farbsatter Pop-Crash zwischen Bobby McFerrins Musik und Celis’ Tanzsprache. Drei Körper, drei Neon-Blazer, null Instrumente – und doch eine ganze Funk-Kapelle. Eine Hymne an das Tastbare, die zeigt, wie viel Groove in einem Knieknick stecken kann und wie die Tänzer:innen Humor mit messerscharfem Timing darstellen.

„​Carousel“ von Virginie Brunelle saugt die Luft wieder heraus. Philip Glass’ „Paul Is Dying“ wird in ein intensiv fokussiertes Pas de plusieurs übersetzt: ein Kreisel aus Hebungen, Griffen und stillem Widerstand, bei dem jeder Umlauf ein Stück Leben abträgt. Vier Tanzpaare schleudern und retten einander, doch die Hände greifen nur Stoff, nie Haut. Glass’ Ostinato rotiert, die Körper mit – bis nur noch Atem übrig bleibt. Kaum verarbeitet, faucht Erika Stuckys „​My Sharona“ aus dem Off. Andonis Foniadakis’ „​Sharona“ jagt Tänzer:innen in petrolblauen Mikro-Tuniken über die Bühne, Bandagen an Knien und Ellbogen. Kicks, Spiralen, Bremsungen im letzten Zentimeter – jeder Riff sitzt, jeder Jodel-Spike als Schulterzucken. Ein Rock-Solo für den ganzen Körper. Barak Marshall bündelt schlussendlich die Fäden mit „​The End“, eine inszenierte TV-Show mit Mikrofon und Zeigefingern. Netztops aus „​Sharona“, Tracksuits aus „​Hymn“, Dumais-Hosen, Celis-Blazer – eine Mini-Parade der Uraufführungen. Namen werden ins Mikro gerufen, Gelächter, Schweiß, ein Finger zeigt in den Himmel – gerade genug Sauerstoff, um die Pause einzuleiten.

Hommage an Pina Bausch

Im zweiten Teil des Abends ehrt das Theaterhaus vier vergangene, erfolgreiche Produktionen. Die Gauthier Dance JUNIORS, eigentlich nur auf der kleineren T2-Bühne zu sehen, eröffnen Alejandro Cerrudos „​Lickety-Split“ und beweisen, dass Zartheit alterslos ist: Devendra Banharts Indie-Folk trifft Partnerarbeit, in denen Vertrauen sichtbare Form annimmt. Schwebehilfe anstelle von Kraftdemonstration. Drei Paare, ein Lichtkorridor, mehr braucht es nicht. Die Schulung in klassischer Technik trifft auf Cerrudos organisches Tanzvokabular – ideal, um den JUNIORS Profil zu geben, die am Ende für tobenden Applaus sorgen.

Die JUNIORS mit „Lickety-Split“ von Alejandro Cerrudo.

Die JUNIORS mit „Lickety-Split“ von Alejandro Cerrudo. Foto: Jeanette Bak

Eric Gauthier platziert sein eigenes „​ABC“ als Eisbrecher: Tempo rauf, Humor rein, Saal auf Betriebstemperatur. Das Solo ist ein charmantes Selbstporträt des Hausherrn – ein Dankeschön als Zwischenruf des Compagnie-Chefs an seine Tänzer:innen und ans Publikum gleichermaßen. Das hervorragende Talent von Shori Yamamoto geht an niemandem vorbei. Er sprintet durchs Alphabet, besteht die klassischen Tanzelemente mit Bravur und WOW-Momenten, die er mit einer Zigarette bei dem Buchstaben „P“ wie Pina Bausch unterbricht – Ballettnerd trifft Stand-up-Comedian.

Das vertanzte ABC von Eric Gauthier mit Shori Yamamoto.

Das vertanzte ABC von Eric Gauthier mit Shori Yamamoto. Foto: Jeanette Bak

Bevor Foniadakis’ XXL-Bolero alle Kräfte bündelt, setzt Bruna Andrade, die am Abend erstaunliche Leistung zeigt, erneut die Luft still: der Nervenknoten „​Infant Spirit“ von Goecke – Fingerzittern, Wirbelsäulenbögen, ein Aufschrei ins Nichts, die rosa Nelke am Revers. Ein Solo, gewidmet seiner prägenden „Grande Dame“ Pina Bausch, das auf den klagenden Gesang von Antony and the Johnsons baut. Rau, verletzlich, hypnotisch, große Begeisterung. Zum Finale dann die bekannten Trampoline, Neon, Ravel. „​Bolero +“, die JUNIORS und „Seniors“ gemeinsam: einzelne Sprünge, Paare, schließlich ein Ganzkörper-Orchester. Ravels Schlussakkord klingt und am Ende Konfetti als Happy Birthday in den Saal. Labor der Kurzchoreografien, Rückschau voller Reverenzen, gezeigtes Können von Gauthier Dance und Zukunftsversprechen der JUNIORS.