Gemüse-Szene mit dem König Karotte in Lyon

Tyrannisches Wurzelgemüse

Jacques Offenbach: Le Roi Carotte

Theater:Opéra national de Lyon, Premiere:12.12.2015Regie:Laurent PellyMusikalische Leitung:Victor Aviat

Das war ein Gipfeltreffen von Theatergiganten! Jacques Offenbach, der Opernspötter von Paris, schließt mit dem damals berühmtesten französischen Theaterschriftsteller Victorien Sardou eine Bühnenallianz. Beide wollen ein neues Genre entwickeln. Und die Presse schreibt sich bereits im Entstehungsprozess die Finger wund. Ein giganteskes Bühnenspektakel kommt heraus. „Roi Carotte„, eine Opéra-Bouffe-Feérique, die alle Rekorde bricht. Fast 6 Stunden Aufführung. An die 200 Personen wimmeln in immer anderen Bühnenbildern. Drei Kostümbildner schneidern 1.150 Kostüme. Mit „König Mohrrübe“ erobert sich der durch den preussisch-französischen Krieg 1870 in Ungnade gefallene Offenbach die Pariser Opernbühnen wieder. Die Aufführung am 15. Januar 1872 im Théâtre Gaité ist ein Riesenerfolg. In London, New York und Wien wird „Roi Carotte“ nachgespielt. Dann verschwindet es von der Bildfläche. Zu opulent, zu lang, zu kostspielig. Nach mehr als 140 Jahren leistet sich jetzt das Opernhaus in Lyon diesen Aufwand. Vergangenen Samstag war Premiere. Aber märchenhaftes Ausstattungstheater ausgerechnet jetzt, wo doch Offenbach tragischer Weise mit den Terroranschlägen vom 13. November verbunden ist? Die Konzerthalle Bataclan, wo 90 Menschen ums Leben gekommen sind, ist ja nach einer Offenbach-Operette benannt! Also ein unglaublicher Versuch in unmöglichen Zeiten!?

„Die Revolte am Ende, die Polizei von Roi Carotte, die es verbietet, sich auf der Straße zu treffen. Das erinnert vielleicht an den Zustand in Frankreich“, erklärt Regisseur Laurent Pelly vor der Premiere. In Frankreich ist der Ausnahmezustand verhängt. „Aber glücklicherweise hat niemand aufgehört, schöne Sachen zu machen“, so Pelly weiter. „Das wäre doch schrecklich. Im Gegenteil, wir müssen schöne Sachen machen, um dem zu widerstehen!“

Recht hat er. Und über die Tyrannei nachzudenken, egal in welchem Gesicht sie sich zeigt, lohnt sich auch in diesem Werk. Wenn es auch in „Roi Carotte“ um tyrannisches Wurzelgemüse geht! Für seine Vertreibung braucht es eine Volksrevolte. Der Usurpator hier ist ein ungehobelt-unförmig karottenroter Typ mit grünem Büschel auf dem Kopf, mit Erdresten und Wurzelstränen überall, vor allem an den Fingern. Genau so würde man sich König Mohrrübe in einem Kinderbuch vorstellen. Mit den Wurzelfingern bohrt er sich manierenlos in der Nase oder er hält sie in Alkoholgläschen und schüttelt sich vor Wonne. Wenn er singt, krächzt er. Allerdings hat er bis auf sein Vorstellungscouplet: „Je suis le roi, le roi Carotte, Sapristi! Malheur à qui s’y frotte!“ wenig zu singen. Sein Thron ist eine Gemüsekiste, die er mithilfe eines Regiments von Teltower Rübenköpfen in lilaweißer Uniform in Fridolins Palast stellt. Der junge Thronanwärter Fridolin im Harry Potter Outlook wird allzu bereitwillig von seinem wankelmütigen Hofstaat fallen gelassen. Schnell sind die wie im Wiener Kongress antanzenden Adligen in der Ahnengalerie bereit, dem unflätigen Wurzelgemüse zu huldigen. Da reicht ein Zauberstabschwung von der Hexe Coloquinte, Staatsfeindin Nummer eins im geckigen Gurken-Outfit mit giftgrüner Tolle!

Dass Regisseur Laurent Pelly diese unglaublichen Offenbach-Fantasmen in den Griff bekommen würde, daran hat niemand gezweifelt. Seit den 1990ern setzt er Offenbach in Frankreich und in der Schweiz wirkungsvoll in Szene. Allein sieben Bühnenwerke gehen auf das Lyoner Konto. Und immer dabei ist seine Partnerin Agathe Mélinand, verantwortlich für die Aktualisierung der Dialoge. Und derer sind hier viele. Das scheint typisch für die Gattung der Opera-bouffe-feérique. Die Basis ist Sprechtheater. Ihre Kulminationspunkte sind Musiknummern. Nicht wenige Szenen bestehen allerdings nur aus Dialogen! Und wer liebt gestelzt parlierende Sänger? Offenbach verfügte seinerzeit über eine berühmte Truppe an versierten Schauspiel-Sängern. Dieses Stimmsprechfach gibt es heute nicht mehr. Für die Lyoner Premiere wurde also in die gerade neu erstellte Partitur im Rahmen der von Jean-Christophe Keck betreuten kritischen Ausgaben von Boosey & Hawkes/Bote & Bock Berlin eingegriffen. Auch wenn sich die Herausgeber gern eine philologisch korrekte Umsetzung der neuen Partitur gewünscht hätten. Denn es ist die erste veröffentlichte Partitur dieses Werks. Seinerzeit ist – etwas verwirrend – nur eine nie aufgeführte dreiaktige Fassung als Klavierauszug heraus gekommen. Die von Pelly/Mélinand auf dieser dreiaktigen Fassung basierenden Umsetzung funktioniert jedenfalls exzellent!

Das Einheitsbühnenbild von Chantal Thomas aus Bücherregalen, beweglichen Holz- und Containerschränken mit Labortischen auf rollenden Rädern wandelt sich schnell mal in eine Pompeji-Kulisse. Schränke stellen sich quer und sind Ruinensilhouetten. Aus anderen Schränken steigt eine Togagesellschaft, die in antiken Freskenaufstellung posiert. Der Vesuv rollt als Modell auf einem Labortisch rein, qualmt, und in rotem Licht besingt Pompeji seinen Untergang. Großartig wie Pelly vor allem den omnipräsenten Chor bewegt. Und man möchte gar nicht wissen, wie die Maskenbildner im Bühnen-off schwitzen, um die Choristen in immer neue Kostüme zu werfen. Das karnevaleske Defilee von unzähligen Insekten, die Offenbach in seinen Anweisungen genauestens beschreibt (Hirschkäfer als Feuerwehrmänner, Holzbohrer als Zimmermänner, Schnaken, Grillen, etc…) löst Pelly mit einer marschierende Ameisenbrigade auf, die später Bildtafeln von Insekten durchreicht. Diese Bilder hat er angeblich von naturalistischen Darstellungen aus dem im letzen Jahr neu eröffneten naturwissenschaftlichen Musée des Confluence in Lyon hergenommen.

Musikalisch witzig ist das Eisenbahn-Rondo. Oder eine provencalische Farandole als Übergangsmusik nach der Flucht Fridolins vor König Mohrrübe. In den Nummern ist auch gekürzt worden. Das Tempo der Nummernfolge gerät dadurch einige Male etwas zu rasch. Da hätte man gern noch eine Strophe mehr gehört. Und Dirigent Victor Aviat hätte das Orchester auch etwas geschmeidiger, vielleicht auch lasziver durch einige Galopps und Walzer führen können, und ein bisschen mit den Auftakten spielen können. Gut gelingen die dramatischen Einlagen. Wunderbar agiert überhaupt das Bühnenensemble. Yann Beuron gibt einen agil jugendlichen Tenor, in der Hosenrolle des Genies Robin-Luron, seines unermüdlichen guten Geists Julianne Boulianne. Jean-Sebastien Bou als wankelmütiger Pipertrunck hat schon hier vor drei Jahren mit der Titelrolle in Thierry Escaichs  „Claude“ gepunktet. Oder Antoinelle Dennefeld als rotzfreche Cunégonde, die ihren ausgestellten Reifrockkleid mit Turnschuhen darunter Lügen straft.

Sämtlichen Staub in Sprache, Diktion und Geste fegt das Team Pelly-Mélinand virtuos beiseite. Mit kleinen Gags und neuen Ideen, beispielsweise die Hexe Coloquinte aus einer Ansagerin am Anfang heraus zu entwickeln, die mit ihrem hinter sich her gezogenen Tannenbaum zwei Mal vergeblich versucht die Szenen zu erklären. Verblüffend sind die wenigen düster-ernst-romantischen Musiken. Der romantische Handlungsstrang in dieser Lyoner Fassung scheint zu Gunsten der Wurzelgemüsedramatik etwas zu kurz gekommen. Denn die Liebesgeschichte zwischen Fridolin und Rosée-du-soir ist mit dem Tableau Le Trèfle à cinq feuilles gestrichen worden. Mit ihrer Romance des fleurs durfte Chloé Briot zartes naturimpressionistisches Flair versprühen. Man spürte sie dennoch, wie beispielsweise in einer großartigen Beschwörungsszene, die Sehnsucht und den Aufbruch in Richtung eines größeren fantastischeren und romantischen Entwurfs. Offenbach hat ihn knapp 10 Jahre später mit „Hoffmanns Erzählungen“ auch realisiert. „Roi Carotte“ ist ein deutlicher Anfang auf diesem Weg. In Lyon ist ein in dieser Hinsicht wertvolles Offenbach-Stück für die Bühne wiedergewonnen worden. Tosenden Beifall und große Begeisterung sind die Antwort!