Die Trauma-Patienten spielen nun also in einer Therapie nach, was sie einst Schreckliches erlebt haben. So wird das Geschehen aus dem Dreißigjährigen Krieg mit seinen Millionen Toten durch Schlacht und Krankeit und den Konflikt zwischen der Unterschicht und dem reichen Adel ohne eine Änderung im Text ganz nah in die Gegenwart gerückt. Der „Bauer“ ist einer der am schwersten Geschädigten, er wird von Georg Festl mit einer unter die Haut gehenden Unmittelbarkeit gesungen und gespielt. Bald aber rückt „der Simpli“, der Einfältige, das Kind, der zarte Junge in einem Mädchenkörper in den Vordergrund. Die blutjunge Samantha Gaul – auch schon Sophie Scholl in Udo Zimmermanns „Die weiße Rose“ am gleichen Ort – spielt die Titelpartie mit wundersamem Staunen in den Augen und unschuldigen Bewegungen, singt sie dabei auch noch mit einem so zauberhaft reinen Sopran, dass man stets um das Schicksal des Jungen bangt und zugleich tief im Innersten weiß, dass er alle Unbill unbeschadet überstehen wird. Was für eine schöne Szene, wenn er/sie aus Weingläsern eine Tanne aufschichtet, die alsbald in sich zusammenfällt. Fatal nehmen sich die Erziehungsversuche des „Einsiedel“ aus. Denn in der großartigen Inszenierung von Lorenzo Fioroni (hier geht es zu seiner Augsburger „Carmen“-Inszenierung) und bei Charaktertenor Mathias Schulz ist der ein durchaus zwielichtiger Charakter, der am Ende den Simplicius zum Komplizen bei seinem Suizid mittels Giftspritze aus dem Sanitätskoffer machen will. Wenn der „Einsiedel“ das beflissen aufgesagte, aber durch Hörensagen nicht ganz richtig gelernte Vaterunser des Simplicius korrigiert, ahnt man, dass dies nicht unbedingt etwas Gutes bedeuten muss.
In der dritten Szene („Bankett beim Gouverneur“) findet sich der Kleine im grellen Monströsitäten-Kabinett einer feierwütigen Oberschicht wieder – wunderbar gespielt und gesungen vom Chor des Augsburger Theaters. Es gleicht einem mittelalterlichen Totentanz, könnte aber auch von George Grosz gemalt oder einer schrägen Halloween-Party entflohen sein (Kostüme: Katharina Gault). Also tritt hier der großgewachsene, muskulöse Alexander York, der den Hauptmann singt, als Dragqueen auf. Und er macht dies furios und mit großer Selbstbewusstheit, obwohl er erst „Eleve im Ensemble“ ist, wie das Programmheft vermerkt. Eine riesige Puppe wird zum mißhandelten Fetisch, der schließlich aufgehängt und zerfetzt wird. Am Ende aber streckt Bombenhagel alle nieder – und wieder ist Simplicius Simplicissimus, der Einfachste aller Einfachen, allein: „Gepriesen sei der Richter der Wahrheit“ singt er schlicht, während die Toten leise in Vokalisen summen.