Gesichter des Flamencos

Compañía Manuel Liñán: ¡VIVA!

Theater:Theaterhaus Stuttgart, Premiere:03.08.2025

In der 15. Auflage des Stuttgarter Flamenco Festivals wird endlich ein Tanz der Compañía Manuel Liñán gezeigt. „¡VIVA!“ am Theaterhaus Stuttgart zelebriert die vielen Gesichter des Flamenco abseits von Geschlechternormen.

Ganz zart ist sie zunächst, melancholisch, dann wilder aufbegehrend, schließlich fordernd. Es geht mitten rein, wie die Geige da im Dunkel ihre Stimme erhebt. Eine menschliche gesellt sich hinzu, musiziert ebenso emotional, singt von Herz, Gefühl, Strafe, Schmerz. Vor allem von einer schönen Rose. Und siehe: Da steht sie prompt, wie eine Skulptur, vom Publikum abgewandt – in leuchtend rotem Kleid mit tiefem Rückenausschnitt sowie roter Blüte über dem Chignon.

Der Auftakt von „¡VIVA!“ beim Stuttgarter Flamenco Festival macht klar: Manuel Liñán, Choreograf, Tänzer und Compañía-Chef, nimmt nicht nur eine Position auf der Bühne im Theaterhaus ein. Er setzt ein selbstbewusstes Statement. Der Mann, der im traditionellen Traje de flamenco, dem Flamencokleid, virtuos Hände und Arme sprechen lässt, der leidenschaftlich in seine Zapateados abtaucht, mal mit den Füßen tastet, streicht, klappert und stampfend abrockt, schert sich nicht um traditionelle Geschlechterrollen.

Gesichter des Flamenco

Wem man Kleidung zuschreibe, sei ihm herzlich egal, sagt er. In „¡VIVA!“ feiert er denn auch nicht eine bestimmte Weiblichkeit oder spielt gar einen Part. „Mir geht es um den Tanz!“, so Liñán. Der weibliche Flamenco habe viele Gesichter. Im Grunde sei das Stück schon in seiner Kindheit im andalusischen Granada entstanden.

Als Siebenjähriger habe er sich in sein Zimmer eingeschlossen, die Kleider seiner Mutter angezogen – sein Lieblingsstück war ihr grüner Rock – und heimlich getanzt. „Außerhalb dieser vier Wände war dieser Tanz undenkbar.“ Zumal sein Vater, ein Torero, wollte, dass er in dessen Fußstapfen trat. Doch er tanzte. Nach Erfolgen als traditioneller „Bailaor“ wagte er als 34-Jähriger die Wandlung: 2014 trat er erstmals mit langem Rock auf und Tuch, dem Mantón de Manila. Queerer Flamenco? Was manche entsetzte, lobten andere umso mehr, luden ihn ein, das spanische Kulturministerium kürte ihn 2017 zum Tänzer des Jahres.

Szene aus „¡VIVA!“ am Theaterhaus Stuttgart

Szene aus „¡VIVA!“ am Theaterhaus Stuttgart. Foto: marcosGpunto / Sofia Cruz

Tanz der Befreiung und Identität

Auch die Stuttgarter Festivalmacher wollten die Compañía Manuel Liñán längst holen, da kam Corona. Nun zur 15. Auflage des Festivals hat es geklappt. Und das Warten hat sich gelohnt. Ob Zapateados gefühlvoll bis rasant, ob Drehungen, Sprünge, Rückbeugen, Hüftschwünge, Bodenwellen wie im Streetdance, Liñán, Manuel Betanzos, Jonatán Miró, Miguel Heredia, Joel Vargas und Daniel Ramos tanzten, klatschten auf Körper und in Hände, als ob es um ihr Leben ginge. Höchst virtuos, aber vor allem tief und humorvoll loteten sie die Klaviatur menschlicher Befindlichkeiten aus – damit auch die Geschichte des Kompaniegründers, die Befreiung von Konventionen, die Freiheit, die eigene Identität zu leben.

Wie eine Königin wandelte Ramos im rosa Rüschenkleid auf schmalen Holzbänken, die vor einem Vorhang aus Glitzerfäden immer neu angeordnet wurden, sang von Rufen, die wie Rosen aus dem Herzen kämen. Miró wirbelte, als wolle er es mit der Welt aufnehmen. Das galt auch für Betanzos frech aufreizenden Hüftschwung-Tanz, Vargas und Heredias mitreißendes Kastagnettentanz-Battle in Schläppchen à la spanisches Ballett Escuela Bolera. Nicht zu vergessen den Bata de cola, dem Schleppenkleidtanz mit Mantón, den alle sechs mit Verve gemeinsam vollführten. Apropos, was die Sänger Antonio Campos und David Carpio, Geiger Victor Guadina, Gitarrist Francisco Vinuesa und Percussionist Kike Terron aufboten, wie sie mit den Tänzern fühlten, flirteten, polyrhythmisch und –phon, einfach grandios. Wie heißt es im Programm? Liñán stelle die Pluralität von Tanz, der Formen, dabei die Einzigartigkeit eines jeden vor! Und gibt so ein Plädoyer für die Vielfalt des Daseins.

Die Eröffnung

Die war auch an der Eröffnungsgala zwei Tage zuvor zu erleben. Mit Carmen Camacho, Laura Fúnez, Sara Luque und Araceli Muñoz trafen vier Flamencotänzerinnen auf vier Musikschaffende (Gesang: Carmen Fernández und Momi de Cádiz; Gitarre: Fernando de la Rua und Antonio Españadero), die so noch nie zusammen auftraten. Ein Abend voller Rhythmus und Enthusiasmus, der das immaterielle Unesco-Weltkulturerbe ganz neu entdecken ließ! Künstlerisch geleitet hatte das Tablao Tänzer und Choreograf Miguel Ángel, der mit Catarina Mora für das Festival verantwortlich zeichnet. Die Choreografin, Tänzerin und Dozentin gründete dieses 2010, um eine „Plattform des Flamencos in jeglicher Form“ zu schaffen.

Im Theaterhaus findet stets die Gala, eine außergewöhnliche Produktion sowie die Flamenquitos statt, ein Abend mit Menschen aus dem In- und Ausland, die semiprofessionell Flamenco tanzen. Im Produktionszentrum Tanz und Performance werden eine Woche lang Kurse mit den Stars geboten, dazu Talks – dieses Mal mit dem „Gene Kelly“ der „Bailaores“ José Manuel Álvarez – und eine Fin de Fiesta, um das Gelernte vorzuführen.