Schauspieler mit Masken

So endet alles, was menschlich sein will

Martin Sperr: Jagdszenen

Theater:Theater Magdeburg, Premiere:09.09.2023Regie:Julia PrechslKomponist(in):Fiete Wachholtz

Martin Sperrs „Jagdszenen“, inszeniert von Julia Prechsl, steht im Licht dringlicher Gegenwärtigkeit auf der Bühne des Theaters Magdeburg. Ohne zu zögern, erzählt das Ensemble eine Geschichte systemischer Tragik.

Von wann ist dieser Text noch mal? 1965? Erstaunlich! In einer fulminanten Inszenierung eines Klassikers des modernen Volkstheaters von Martin Sperr am Theater Magdeburg, kompakt und erschütternd auf die Bühne gedonnert von Regisseurin Julia Prechsl, erweist es sich, dass das akkurat und passgenau das Stück der Stunde ist. Sperrs „Jagdszenen“ zeigen eine Gesellschaft, in der das, was als „normal“ gelten soll, eine Terrorherrschaft antritt. Ohne alle Empathie, ohne alle Menschlichkeit, ohne alles Mitgefühl wird zermürbt, zertreten und letztlich hingerichtet, was irgendwie als vermeintlich andersartig her leuchtet: Was für eine Warnung vor einer Ablösung der Vielfalt der Moderne durch die Einfalt engstirniger Bosheit.

In Magdeburg kommt Sperrs präzise Analyse einer Gemeinschaft, die sich permanent Außenseiter suchen muss, weil sie sich ohne eigene positive Zukunftsidee nur so ihrer selbst versichern kann, präzise auf die Bühne. Der ohnehin immer ein bisschen unglückliche Zusatz „aus Niederbayern“ fällt weg, weil das Stück keineswegs von einer leicht exotischen Ausnahmesituation in einem süddeutschen Irgendwo erzählt, sondern ein Alarmmodell ist fürs Überall. Es spielt in einem niederbayerischen Dorf kurz nach dem Zweiten Weltkrieg. Julia Prechsl und ihr Team nehmen aber in ihrer Inszenierung jeglichen zeit- und ortsgebundenen Naturalismus konsequent weg. Sie geben den „Jagdszenen“ genau diesen zeitlosen Modellcharakter, der der Kern des Textes ist.

Kostüme und Bühne: düster und zeitlos

Die Bühne von Valentin Baumeister besteht aus einer zweigliedrigen, hohen Wand aus quadratischen Waben, die permanent gedreht und gefaltet und in Bewegung gehalten wird wie Hefeteig: Am Ende geht alles auf. Diese Wand, aus der gleich zu Beginn alle Darsteller kriechen wie Würmer, um sich dann zu strecken wie gesichtslose Zombies und erst danach zu so was wie Menschen zu werden, walkt, bricht und knackt das Personal. Der Bühnenboden besteht aus feuchter Erde: Ackerboden, Dreck, am Ende kommt da niemand sauber raus. Die Kostüme von Luisa Wandschneider nehmen in ihrer Klarheit das Zeitlose der Inszenierung auf. Das Licht ist permanent scharfkantig, nur hell, nur Schatten gebend, nie ornamental.

Luise Hart mit Fratze und Mia Rainprechter als Tonka. Foto: Katrin Ribbe

Genauso wie auch die erstaunliche Musik von Fiete Wachholtz: Sie ist nie Beiwerk oder Emotionsverstärker, sondern spielt selbst eine Rolle auf der Bühne. Sie wird zu einer Art Monster, das alle vor sich hertreibt, wird zum Atem des Geschicks, das die Leutchen durchzieht, wird zum Puls, in dem sie sich bewegen. Alles das zusammen dient in Prechsls Regie einem gemeinsamen Zweck: zu zeigen, wie in einer Gesellschaft ohne die sozialen Grundfunktionen der Solidarität und mit der alleinigen Gemeinschaftsidee von Hass und Ausgrenzung, Zuneigung und Liebe grundsätzlich nicht möglich sind. Ein Mensch mit Behinderung wie Rovo, ein Homosexueller wie Abram, eine junge Frau, die ein eigenes Leben sucht wie Tonka: Sie alle kommen um, ja schaden und zerstören sich gar gegenseitig.

Eine Inszenierung als allgemeingültiges Gesellschaftsbild

Abram, Rovo, Tonka: Selbst die ungebräuchlichen Namen seiner Figuren zeigen bei Sperr schon, wie überindividuell-beispielhaft sein Stück ist. Julia Prechsl verstärkt genau diesen Ansatz. Indem sie beispielsweise die fiese Anonymität der Dorfgemeinschaft mit fratzenhaften Masken darstellt, sodass die Menschen aussehen wie die gnadenlosen Hetzer zu Füßen von Jesus am Kreuz auf Bildern vormoderner Malerei. In einem ihrer Schlussbilder – mehrere Male wirkt die Bühne tatsächlich wie ein Gemälde – zeigt sie eine solche Kreuzigung sehr deutlich. So endet alles, was menschlich sein will. Die Inszenierung badet ausgiebig in einem Text, in dem jeder Satz prägnant sitzt und einen dauerhaften Horror ausstrahlt. Der Text funktioniert, weil Tragik hier nichts persönliches, sondern etwas systemisches ist.

Zwei wunderbare, berührende Liebesszenen enden jeweils in einer Katastrophe. Weil’s in dieser Umgebung halt nicht möglich ist, sich auch nur zu mögen. Diese sehenswerte Wiedererweckung von Martin Sperrs Stück am Theater Magdeburg lebt auch von einem großartigen Ensemble, das sich kopfüber ins Geschehen stürzt und diese Inszenierung und ihre Botschaft kraftvoll trägt und frei lässt. Beispielhaft hier nur Robert Lang-Vogel als Abram, dessen ganzes stoisches Charisma nicht langt, um aus dem Sumpf der Verzweiflung herauszukommen. Und Mia Rainprechter als eine Tonka, die so wunderbar klar und aufrecht sein will und von aller männlichen Gewalt vollkommen zerstört wird. Am Ende, nach Mord und Tod und Mörderjagd, feiert sich das Dorf. Und mit dem letzten Satz im Stück wird klar: Es geht schon wieder alles von vorn los.