Nur noch 45 Minuten Schlaf

Laurent Gaudé: Die letzte Nacht der Welt

Theater:Theater Heilbronn, Premiere:19.11.2025Regie:Elias Perrig

Im Science Dome der experimenta in Heilbronn ist die deutschsprachige Erstaufführung von „Die letzte Nacht der Welt” des französischen Erfolgsautors Laurent Gaudé zu erleben – mit beeindruckenden Projektionen in der Kuppel. Die Produktion vom Theater Heilbronn befragt eine Dystopie, in der wir Menschen ohne Unterlass produzieren und uns ausbeuten.

„Jetzt wird wieder in die Hände gespuckt, wir steigern das Bruttosozialprodukt!“ Ja, wenn das so einfach wäre, den Fortschrittsgedanken voranzutreiben, wie es die beiden Songzeilen der Deutschrocker Geier Sturzflug vor mehr als 40 Jahren suggerierten… Spucke und ein gewisses Quantum an Fleiß mögen zwar Hoffnungen schüren, doch die beiden Zutaten reichen bei weitem nicht mehr aus als Therapeutika gegen die globalen Krisen unserer Zeit. Von dieser Prämisse ist offensichtlich der 1972 in Paris geborene Goncourt-Preisträger Laurent Gaudé ausgegangen, als er sein dystopisches Stück „Die letzte Nacht der Welt“ zu Papier brachte.

Mit ihm gewann er im vergangenen Jahr den Dramatiker-Wettbewerb des Science Theatre Festivals, das vom Heilbronner Theater gemeinsam mit dem naturwissenschaftlich-technisch orientierten Erlebnis- und Lernort Experimenta veranstaltet wird. Jetzt, zum Auftakt des vierten Festivaljahrgangs, hat Elias Perrig den frischen dramatischen Braten als deutschsprachige Erstaufführung in der Übersetzung von Margret Millischer auf der Bühne des wie ein Planetarium anmutenden Science Domes des Experimenta-Neubaus fachgerecht tranchiert. Szene für Szene tischt er ihn wohlproportioniert auf.

Die produktive Menschheit der Zukunft

Gaudés Clou: Der in Frankreich als Dramatiker und Romancier renommierte Autor beamt die Menschheit in eine Zukunft, in der alle ungeheuer produktiv sind: mehr als 23 Stunden lang pro Tag. Zur Erholung werden nur noch 45 Minuten Schlaf benötigt. Die Nächte werden mittels billiger Energie taghell erleuchtet. Ade ihr schönen Ruhephasen, in denen man in romantischen Träumen und zwischenmenschlichen Glücksmomenten versinken konnte. Die im Programmheft abgedruckten Gedichte dienen als kontrastierende Erinnerungsmomente zu Gaudés gar nicht so schöner neuer Welt der permanenten Produktivität.

Ein nicht näher definiertes Kartell von Wissenschaftlern und anderen Machtmenschen will eine soeben erfundene Wunderpille nutzen, um die fortschrittsgläubige Menschheit zum weitgehenden Schlafverzicht zu überreden. 54 Staaten haben sich dem Experiment schon angeschlossen, voller Feuereifer. Und viele dürften noch folgen. Gabor, ein weltreisender Popagandist der Zeitenwende, erzählt rückblickend, wie er kurz vor der letzten Nacht als Organisator des Superpillen-Wunders ans andere Ende der Welt aufgebrochen ist, um dort zu helfen, letzte organisatorische Schritte einzuleiten.

Fatal nur, dass er die Wünsche und Warnungen seiner Frau Lou (Judith Lilly Raab) und einer aus dem Off skandierenden Protestgruppe im Stil der Fridays-for-future-Bewegung ignoriert. Der Protagonist, dem Nils Brück eine starke Bühnenpräsenz mit Momenten einer resignativen Melancholie verleiht, vertraut dem Produktivitätsversprechen blindlings – und gerät deshalb in depressive Abgründe. Wegen der permanenten Helligkeit und der schier unaufhörlichen visuellen Sinneseindrücke sind seine blutunterlaufenen Augen viel zu trocken, er droht zu erblinden. Schlimmer noch: In der Ferne liegt seine Frau im Sterben, doch während der letzten Nacht gibt’s keine Heimflüge mehr zu ihr. Ob Lou tatsächlich stirbt oder auf geheimnisvolle Weise in einer mysteriösen Anderswelt verschwindet, bleibt bis kurz vor Schluss der rund hundertminütigen Vorstellung im Unklaren.

Zwischen Symbolismus und Mystizismus

Was bei Gaudé als dramaturgisch klar strukturierte Dystopie beginnt und von Perrig auch konsequent in nüchterner Noblesse inszeniert wird, kippt mehr und mehr in die Sphäre des Symbolismus und Mystizismus. Das mag eine Schwäche des Stücks sein. Vor allem jene Szenen, in denen von den Ritualen der Sami, einem indigenen Sonnenvolk im hohen Norden Finnlands, Schwedens, Norwegens und der Kola-Halbinsel, erzählt wird, wirken nebulös.

Sophie Maria Scherrible bringt als bunt kostümierte Vertreterin der Sami die entsprechende folkloristische Note auf die Bühne. Gabor, der vom permanenten Tagesterror längst in den Burnout getrieben worden ist, flüchtet sich am Ende zu dem Naturvolk. Zuvor opfert er mit Vania (Lisa Wildmann) die Hauptverantwortliche der Zeitenwende per Wunder-Pille mit mörderischem Würgegriff. An seinen Händen klebt Blut, aber das gehört in diesem Stück zum reinigenden Ritual. Und, oh Wunder, hoch im Norden trifft Gabor auch seine verloren geglaubte Lou wieder. So mutiert der Autor zum Märchenonkel, während das Publikum den Projektionen von Sternhaufen, Kometenschwärmen und abstrakten Lineaturen folgen kann, die der Videodesigner Kevin Graber in der Kuppel des Heilbronner Science Domes erscheinen lässt. Ein passendes Augenfutter, das einen größeren Zauber ausstrahlt als die Erzähl- und Dialogpassagen. Schade eigentlich, Gaudé hätte mehr Fortune verdient.

Noch bis Sonntag lädt das Science Theatre Festival unter dem Motto „Maschinenträume“ zu weiteren Tanzveranstaltungen, Performances und Diskussionen rund um die Themenfelder Künstliche Intelligenz, technologischer Fortschritt und den damit verbundenen Herausforderungen für unsere Gesellschaft ein. Das Programm soll verdeutlichen, dass Zukunft dort entsteht, wo sich Wissenschaft und Kunst begegnen. Genau dafür stehen die beiden Veranstalter Experimenta und Heilbronner Theater.