Mehr Mut zum Aberwitz

Dieter Brand und Harry Sander: Der Prinz von Preußen

Theater:Gerhart-Hauptmann-Theater Görlitz-Zittau, Premiere:23.09.2023Autor(in) der Vorlage:Helmut Bez und Jürgen DegenhardtRegie:Kay LinkMusikalische Leitung:Ulrich KernKomponist(in):Dieter Brand und Harry Sander

Mit antiquarischer Nostalgie lebt „Der Prinz von Preußen“ in Gölitz Zittau am Gerhart Hauptmann Theater wieder auf. Das Musical von Dieter Brand und Harry Sander könnte an einigen Stellen mehr bieten.

Harry ist ein Gestrandeter. Er hofft, es in Berlin zu etwas zu bringen. Er hat keine Papiere, aber große Hoffnungen und nicht minder große Ängste. Solche wie ihn gibt es viele, wenige Jahre nach dem ersten Weltkrieg, mitten in der großen Inflation.

Und so blicken wir in dem Musical „Prinz von Preußen“ gleich zu Anfang in einen großen Wartesaal voller höchst unbürgerlicher Existenzen. Hochstapler, Schieber, Prostituierte, falsche und echte Adelige auf dem Abstellgleis. Harry ist ein Felix Krull, ein Simplicissimus und auch ein Hauptmann von Köpenick in einer Person. Kein Original, sondern ein epigonales Geschöpf – ein Erzeugnis der späten DDR, die nach der Biermann-Ausbürgerung den Sozialismus immer öfter Sozialismus sein ließ. Stattdessen wird von einem Konsumparadies zweiter Klasse geträumt, mit der D-Mark als geduldeter zweiter Währung im Lande, mit Exquisit-Läden und Genex-Versand. Dort, wo man statt mehr als zehn Jahre auf einen Trabant zu warten, sich einen gegen harte Währung sofort von seinen großzügigen Verwandten aus dem Westen schicken lassen konnte.

Nostalgische Wiederentdeckung

Auch „Prinz von Preußen“ gehört in diese Nostalgie-Welle der späten DDR. 1978 hatte das Musical von Dieter Brand und Harry Sander mit dem Text von Helmut Bez und Jürgen Degenhardt an den Städtischen Bühnen Erfurt Premiere. Über Thüringen hinaus hielt sich sein Bekanntheitsgrad jedoch in Grenzen – bis es der Zittauer Chefdramaturg Martin Stefke nun wiederentdeckte und in der Regie von Lay Link und unter der musikalischen Leitung von Ulrich Kern neuerlich ins Programm hob.

Kann das funktionieren? Sagen wir es so: Ohne den „Berlin-Babylon“-Fernsehhype hätte diese Renaissance wohl kaum stattgefunden. Aber so muss das rasende Zwischenkriegs-Prinzip „Tanz auf dem Vulkan“ die etwas behäbige Handlung samt dem reichlich schepperndem Zirkus-Manege-Sound durch gut drei Stunden tragen. Und es funktioniert gut, jedenfalls stellenweise.

Eine nostalgische Wiederentdeckung auf der Bühne.

Eine nostalgische Wiederentdeckung auf der Bühne. Foto: Pawel Sosnowski.

Harry bekommt auf dem Bahnhof von einem Amerikaner drei Dollar fürs Koffertragen. Vor hundert Jahren, als man mit Millionen Mark höchstens noch ein Brot kaufen konnte, ein Vermögen. Und er macht was draus: Kauft sich einen Anzug und geht unter die Hochstapler. Prinzip: „Uralter Adel, noch ganz jung.“ Drei Jahre später beherrscht er diese Rolle perfekt und steigt in einem Erfurter Nobelhotel als Baron von Korff ab, lässt aber durchblicken, dass er eigentlich der Kaiserenkel sei, ein preußischer Prinz incognito. Was erwartbare Reaktionen auslöst. Der Rest ist Kolportage – und nur die Energieleistung des hochmotivierten Ensembles lässt dies beim Zuschauen und Zuhören des Öfteren vergessen. Die Gesangsnummern sind ebenfalls eingängig, aber auf eine Weise, dass man sie sofort wieder vergisst. Es hat etwas von einem Kessel Buntes in historischem Kostüm.

Mehr Abwechslung erwünscht

Nicht zuletzt sind es vor allem die stilsicheren Videopassagen von Flotent Léo Chaintiou in Schwarz-Weiß-Optik, die das überzuckerter Bühnengeschehen auf kluge Weise in eine Distanz bringen. Da wünscht man sich einen Christoph Marthaler, der kräftig an der Schraube des Grotesken dreht. Das hieße, Tempi bis zum Stillstand zu verzögern, Handlung gleichsam „einzufrieren“ und diese dann wieder hochtourig in den Nonsens zu treiben. Das passiert hier aber nur im Ansatz.

Der großgewachsene Merlin Fargel als Harry singt und spielt zwar gut, doch die Absurdität, aus der seine Figur schließlich gemacht ist, überträgt sich nicht. Kara Kemeny als Journalistin Lily ist da schon exaltierter, in Spiel und Stimme präsenter – bereits eine Kunstfigur. Wohin die Inszenierung idealerweise hätte gelangen können, das zeigt der hinreißende Harald Schröpfer als Hoteldirektor Strebsam: eine Ikone des verqueren deutschen Untertanengeistes, in jeder Geste, mit jedem Wort ins Extrem getrieben. Dass das Publikum gerade sein Spiel honoriert, zeigt, dass es bereit zu einer mutigeren Stückinterpretation gewesen wäre, als sie hier zu erleben ist.

Kaum Langeweile

„Prinz von Preußen“ ist ebenso antiquiert und nicht antiquiert wie „Im weißen Rössl“ oder „Pension Schöller“ – über Gelingen und nicht Gelingen entscheidet letztlich das Maß an Spielwitz und der Wille zur eigenen Form. Hier in Zittau immerhin reicht diese aus, dass man sich drei Stunden lang nicht langweilt, jedenfalls nicht so oft. Natürlich, wenn jemand bei der Bemerkung „Ich kenne Dich!“ tief erschrickt, dann sind wir mitten im Paradies falscher Vögel unserer Gegenwart, wo man mit der – heute noch – inflationsfesten Währung Aufmerksamkeit zahlt.

Oder um es mit dem notorisch gereimten Text des „Prinz von Preußen“ zu sagen: „Ich hab nichts übrig für Phrasen, das bringt mich zum Rasen.“