Szene aus "Identity"

Verlust und Identität

Annett Göhre / Oded Ronen: Identity

Theater:Theater Ulm, Premiere:02.02.2024 (UA)

In einem „Schwanengesang“ zeichnet die Ulmer Ballettchefin ihren Werdegang nach. Im zweiten Teil von „Identity“ am Theater Ulm geht es um aktuelle Entführungem im Gaza-Streifen.

Worin besteht die Identität eines Tänzers beziehungsweise einer Tänzerin? Besteht sie in der Bewegung? Was ist, wenn die Physis nachlässt, der Körper extreme Beweglichkeit nicht mehr zulässt? Ist man dann immer noch Tänzerin? Mit diesen Fragen setzt sich die Ulmer Tanztheaterchefin Annett Göhre in ihrem Solo „Schwanengesang“ auseinander. Sie zeichnet ihren Weg von der Elevin hin zur Choreografin nach. Per Projektion werden ihre Rollen und die Namen der Choreograf:innen eingeblendet.

Bekannte Tanzbilder

Die Musik von Tschaikowsky erklingt oder es ist eine Stimme vom Band zu hören, die aus dem Buch „Klassischer Tanz – Die Schule des Tänzers“ von Nikolai I. Tarassow Regeln rezitiert. Göhre mischt in ihrer Performance Bewegung und Text. Sie zieht Bilanz, in dem sie Jahre und Stunden aufzählt, führt im schwarzen Tutu ein kleines Solo aus „Schwanensee“ vor.

Von der Staatlichen Ballettschule Berlin über ihre Engagements u.a. in Berlin und München bis hin zu ihrer gegenwärtigen Position werden Stationen kurz angespielt. Das wirkt so authentisch wie selbstironisch, besonders, wenn sie am Ende ihres Auftritts mit einer alten Spieluhr das Ensemble auf die Bühne lockt: So dokumentiert sie ihr Sein als Choreografin, in der bei aller Fragilität immer noch die Tänzerin steckt – auch, wenn ihr Gesicht im schwarzen Tutu (Ausstattung: Mireia Vila Soriano) versinkt, den sie in Händen hält.

Eine Person steht einsam auf einer spärlich beleuchteten Bühne.

Im schwarzen Tutu lässt Annett Göhre ein beispielhaftes Tanz-Leben vorbeiziehen. Foto: Sylvain Guillot

In dieser kleinen Geste zeigt sich als stark gesetzte Emotion ein trauriger Abschied, auch wenn das Festhalten am Tutu andeutet, dass es noch nicht vorbei ist. „Schwanengesang“ erscheint in der Konzentration auf diese eine Tanzbiografie subjektiv. Auf der Folie aller Tanz-Biografien aber trifft dieser Soloauftritt allgemeingültige Aussagen.
Wenn Göhre am Ende einsam die Bühne verlässt, stürzt sich das Ensemble in den Raum, um sich zu verstecken. Die Körper zeigen angsterfüllte Expressivität.

Tanz voller Konflikte

Zusammen mit dem zehnköpfigen Ensemble des Tanztheaters Ulm entwickelt der israelische Choreograf Oded Ronen in „The Missings“ die Grundsituation des Überfalls der Hamas am 7. Oktober 2023 auf Israel mit mindestens 1139 Toten und 240 Geiselnahmen. Mit von ihm selbst produzierten Videos, die von Itamar Hayut designt wurden, werden von der ersten Meldung des Angriffs an die Tage genannt. Dazu werden Geschichten von „Vermissten“ erzählt.Die Bühne ist von leeren Karten übersät.

Das Ulmer Ensemble entwickelt eine starke Körpersprache, wenn von den einzelnen Menschen erzählt wird. Trauer, Entsetzen und Wut sind in die Körper eingeschrieben. Die Arbeit von Ronen mit den Arbeitstechniken des Gaga ist in den neuen Ausdrucksmöglichkeiten des Ensembles abzulesen.

Gefühle des Ensembles

Unterstützt werden die Choreografien durch eine Musikauswahl mit Motiven von Kozokaro, Górecki und Faretein, die in ihrer Melodik und Rhythmik zwischen Trauer, Aggressivität und Melancholie changieren.
Wenn es auch um Einzelschicksale geht, agiert das Ensemble gemeinsam. Deshalb ist es schwer, Einzelne aus dem Ensemble hervorzuheben, zumal Ronen sie immer wieder als Kollektiv zusammenführt. Diese Zusammenführung bedeutet aber nicht, dass nicht unterschiedliche Reaktionen der Tänzer und Tänzerinnen gezeigt werden. Da müssen welche in die Arme genommen und getröstet werden oder krümmen sich vor Verzweiflung auf dem Boden.

Mehrere Menschen stehen und knieen als Gruppe.

Einzelne Schicksale aus dem Gaza werden erzählt. Foto: Sylvain Guillot

 

Bewegte Bilder in Ulm

Im Mittelteil hängen sich alle an einen langen Schlauch, der zu immer neuen Formen gebogen wird. Ein Text im Programmheft legt nahe, dass dieser Schlauch die Nervenstränge symbolisieren soll, mit denen der Körper auf Wahrnehmungen und Emotionen reagiert.

Ronen geht es darüber hinaus darum, mit seiner von ihm entwickelten Technik der „Imagery in motions“: „innere Bilder in Bewegung“ umzusetzen. Das gelingt Gabriel Mathéo Bellucci, Alekseij Canepa, Maya Mayzel, Edoardo Dalfolco Neviani, Nora Paneva, Seungah Park, Alba Pérez González, Magnum Phillipy, Carmen Vázquez Marfil und Tsung-Jui Yang mit großer Intensität. Es ist beeindruckend, was sich diese Körper in Ausdrucksinstrumente verwandeln.

Zusammengefasst sind „Schwanengesang“ und „The Missings“ unter dem Gesamttitel „Identity“. In der Tat geht es bei beiden Choreografien um die Frage, wie nach einem Verlust Identität wiedergewonnen werden kann. In „Schwanengesang“ wird das im kleinen Rahmen abgehandelt, in „The Missings“ in einem großen politischen Rahmen. In dieser Gegenüberstellung einer „privaten“ Biografie mit traumatisierten Biografien einer ganzen Gesellschaft liegt eine Welt – und reichlicher Stoff für Diskussionen.