Foto: Dance Company des Theaters Osnabrück in "Zeit" © Oliver Look
Text:Jens Fischer, am 31. Oktober 2021
Es ist Zeit für den Tanz. Alle Sparten des Theaters Osnabrück stellten sich zum Start der Intendanz von Ulrich Mokrusch in den vergangenen sechs Wochen bereits premierenfreudig vor. Nur die Bewegungskünstler nahmen sich für ihre erste Großproduktion etwas mehr Zeit – schließlich setzen sie sich in „Zeit“ genau damit auseinander, dieser … ja, was eigentlich? Wesenlos allmächtig läuft sie dem einen ständig weg, der andere hat langweilend zu viel davon. Beide grämen sich, nicht Herr oder Frau ihrer Zeit zu sein, dass der Tod sie verknappt und ihre Ausdehnung unbeirrbar nur in eine Richtung erfolgt. Wenn Zeit also Bewegung ist und Tanz ebenfalls, ist Zeit dann Tanz? Hat die neue Spartenleiterin Marguerite Donlon (zuvor zwölf Jahre in Saarbrücken und die letzten beiden Jahre in Hagen Ballettdirektorin und Chefchoreografin) damit das ureigene Thema ihrer Kunst gefunden?
Für den Alltagsgebrauch wird ja gern Newtons Diktum geglaubt: „die absolute Zeit verfließt an sich und vermöge ihrer eigenen Natur gleichförmig und ohne Beziehung auf einen äußeren Gegenstand“. Einsteins Relativitätstheorie aber hat das längst widerlegt. Noch schlimmer aber ist die Zumutung der philosophischen These, Zeit sei etwas Subjektives, es gebe sie objektiv gar nicht. Kant erklärte, mit unserem Wahrnehmungsapparat trügen wir sie in die Welt als Dimension, in der sich für uns alle Wirklichkeit abspielt. Die Trennung in Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft – alles eine Illusion des menschlichen Hirns? Faktisch gibt es nur Erinnerung und Erwartung im ewigen Jetzt? Vielleicht sollen die drei berührungslos ineinander verkanteten, wie im gemeinsamen Tanz fixierten Kreise der Bühnenbildskulptur (Ausstattung: Belén Montoliú) genau diese drei Zeit-Instanzen symbolisieren.
Die Zeit rennt
Donlons Auseinandersetzung beginnt mit der gedehnten Zeit – dem Übersetzen des Vergehens von Zeit in raumzeitliche Bewegung. Schnurgerade aufgereihte Tänzer schwanken nach rechts und links, tick-tack, schwingen dann zunehmend wie eine Sinuskurve. Das 24-füßige Ensemble zerfällt in zwei Gruppen, von der einen in die andere taumelt eine Frau und findet ordnungsgemäß einen Mann. Derweil zerfallen die gleichförmigen Zeitflussregungen in ausgreifend beschleunigende oder konzentrierend beruhigende Gestik: Aus der objektiven, mechanisch getakteten wird die subjektive, die gefühlte Zeit. Dazu schwirren die „Nuages“-Klänge aus Claude Debussys „Trois Nocturnes“ aus dem Orchestergraben (Musikalische Leitung: An-Hoon Song). Gefolgt vom wild wirbelnden zweiten Satz, „Fêtes“. „Die rasende Zeit“ heißt die Szene und daher rennen alle hektisch umher – mit-, gegen- und durcheinander. Alltagsstress! Jemand liest auch die Wochenzeitung „Die Zeit“ – so viel Gag darf sein. In Erinnerung der Gestaltungsvielfalt des großstädtischen Husch-Huschs in „Die Stunde, da wir nichts voneinander wussten“ von Peter Handke wirkt die Osnabrücker Version allerdings recht schlicht und der Motionskanon manchmal wie die neoklassisch durchgestylte Tanzszene eines 1920er-Jahre-Films. Reizvoll retro.
Wenn es inhaltlich grundsätzlicher wird, kann die Choreografie nicht mehr mithalten. Aus den Lautsprechern berichtet jemand vom Aufwachen im „bloßen Seinsgefühl, das ein Tier im Inneren spüren mag“ – die Entwicklung, Evolution der Zeit soll nun vertanzt werden. Aber nicht vom Urknall als Geburtsstunde aller Zeitphänomene geht die theatrale Rede, nicht von der zu Materie gerinnenden Energie. Sondern das, was den Tänzerinnen und Tänzern zum Thema einfiel, wird unverständlich gemacht und in eine Klangcollage (Michio Woirgardt) gewoben, die wie ein SF-Film-Soundtrack daherkommt.
Spinnenähnliche Urzeit-Tanzwesen entern auf umgarnten Krücken die Bühne, beäugen skeptisch das Publikum, stolzieren herum, bis ein Mensch auftritt, sich ankuschelt und eines dieser Geschöpfe fortschleppt. Tänzerisch einfacher zu gestalten ist der gefühlter Stillstand: Paare umgarnen sich – in Erwartung eines zündenden Funkens für ein Date, ein bisschen Sex oder ähnliches. Es passiert aber nichts dergleichen. Die Company wartet weiter und verrenkt sich dabei auf, um und mit Stühlen – ein bisschen Pina-Bausch-Reminiszenz („Café Müller“). Als Denksportaufgabe wird das Publikum in die Pause entlassen mit der Frage: Does time even exist?
Leben im Jetzt
Wie erwähnt, gibt es solche und solche Antworten in der Wissenschaftsgeschichte. Aber angenommen, es existiert nur der lebenslange Augenblick, dann sollte er gefeiert werden. Schluss also mit dem Drehen um sich selbst und um andere. Schluss mit dem Leiden am Sehnen. Gegen Chronos, den Verlauf der Zeit, wird Kairos ins Spiel gebracht, die Idee vom Suchen und Finden des richtigen Moments. Was Donlon dazu einfällt? Tanzende Einhörner – keine Ahnung, warum.
Weißes Rauschen flutet die Bühne, der Tanzerregungslevel steigt – und natürlich finden Mann und Frau in dieser „Schicksal“ betitelten Szene den richtigen Moment zum Liebesduett, verzichten dann zunehmend auf das klassische Bewegungsvokabular und gehen einfach innig knutschend von der Bühne. So soll es sein. Lasst euch fallen. Eine Frau macht Stage Diving in die Arme des Ensembles. Und alle gucken sich tief in die Augen. Das Orchester spielt John Adams‘ „Common tones in simple time“: schwebend irisierender, geradezu metaphysisch schimmernder Minimalismus. Bald finden die Körper zurück zur Anfangsformation einer schwankenden Gruppe und versuchen in der Leere des Raumes nochmal das Phänomen Zeit im Wortsinne zu greifen. Die Vergeblichkeit geht in ein Abschiedswinken über.
Es war Zeit für den Tanz. Er hat ihn genutzt und üppig aufgefahren. Donlons artistisch elegante, sich kreuz und quer in der Tanzgeschichte bedienende Körpersprache funktioniert höchst unterhaltsam. Inhaltlich ist die Produktion allerdings stark überlastet und choreografisch mangelt es an Präzision sowie konsequenter Gestaltungskraft. Jetzt könnte es um stilistische Detailarbeit zur Profilierung einer Osnabrücker Tanzdramaturgie gehen. Das Potenzial ist da und das Ensemble formidabel.