Szene aus "forecast:ödipus"

Missverstandenes Orakel

Thomas Köck: Forecast Ödipus

Theater:Schauspiel Stuttgart, Premiere:13.05.2023 (UA)Vorlage:ÖdipusAutor(in) der Vorlage:SophoklesRegie:Stefan PucherKomponist(in):Christopher Uhe

Die Dürre herrscht: Das Orakel Pythia fordert einen radikalen Systemwechsel, um der Klimakatastrophe zu entkommen. Doch Tiresias will die Botschaft nicht übermitteln. Thomas Köck überschreibt den bekannten Mythen-Stoff. Trotz einiger moralischer Töne überzeugt die Uraufführung in der Regie von Stefan Pucher am Schauspiel Stuttgart.

Muss man die alten Mythen, die der griechischen Tragödie zugrunde liegen, neu überschreiben? Was ist der Gewinn dabei? Geht da nicht das Pathos eines „Ödipus“ verloren, der schuldlos schuldig sein von den Göttern verhängtes Schicksal annimmt, obschon ganz irdische Machtkämpfe seine Geschichte mitprägen? Oder lässt sich den alten großen Erzählungen nur noch durch Überschreibungen beikommen? „mythen“ sind „wie datenreste auf alten festplatten“ schreibt Thomas Köck in seine Ödipus-Überschreibung „forceast:ödipus“ hinein: Er erzählt in einer englisch-deutschen Sprachversion die Geschichte des Ödipus in den Handlungsabläufen, wie Sophokles sie einst formiert hat. Aber er setzt sie in Bezug zu den bedrängenden Problemen der Gegenwart: Wo Sophokles die in Theben wütende Pest als Ausgangspunkt nimmt, da nimmt Köck die bedrängenden Katastrophen der Gegenwart ins Visier: die Klimakatastrophe und wie die gegenwärtigen Menschen darauf reagieren: Alle wissen davon, aber jeder richtet sich in seiner Bequemlichkeit ein. Man spürt es täglich, aber man ändert nichts.

Wie Kassandra will niemand den Aufschrei der Pythia wahrhaben, die einen Systemwechsel einfordert, was beim greisen Chor, der auch die „Wohlstandswutschnaubenden“ genannt wird, auf Unverständnis stößt. Er steht da auch stellvertretend für das Premierenpublikum, das direkt angespielt wird, weil es auch sehenden Auges ist, aber nicht aus seiner Wohlstandsfalle heraus kommt. In der Uraufführungsinszenierung von Stefan Pucher am Schauspiel Stuttgart tritt die Pythia der Katharina Hauter im dunkelgrünen Outfit (Kostüme: Annabelle Witt) auf. Von den Dämpfen des Orakels benebelt – und Bühnennebel gibt es reichlich – streitet sie sich mit dem blinden Seher Teiresias (Michael Stiller spielt diesen wunderbar als überzeugten Opportunisten) über die Bedeutungshoheit ihrer mehrdeutigen Orakelsprüche. Da greift Köck interpretierend tief in die Struktur der antiken Tragödie ein: Pythia, die heimliche Spielleiterin dieses Spiels, ist Idealistin, während Teiresias Zyniker ist, der weiß, dass er für die Mächtigen nur ein Clown ist.

Es ist ihm egal, was die Folgen seines Verhaltens sind. Für den Fall „Ödipus“ mit fatalen Folgen. Denn Pythia ging es in ihrem Spruch, den Kreon (wuchtig überzeugend, dabei staunend immer ein wenig neben sich stehend: Sebastian Röhrle) einholt, um gegen die Pest in Theben zu kämpfen, gar nicht um das persönliche Schicksal von Ödipus, sondern um die Auflösung des alten Systems Laios: Ödipus also als Symptom, aber nicht als „persönlicher Fall“. All die Leiden, der Tod der Iokaste und die ausgestochenen Augen des Ödipus waren nicht im Sinne der Pythia. Sie wollte mit ihrem Spruch einen Systemwechsel erreichen, was Teiresias mit seiner Interpretation verhindert. Auch Iokaste (von Therese Dörr im goldenen Kostüm mit großem Furor gespielt) von den Toten wieder auferstanden, kann nichts daran ändern, dass der Chor der Greise einerseits betreten daneben steht, aber doch alles mit schönen Songs (Musik: Christopher Uhe) für sich und damit das alte System zu vereinnahmen versucht. Wie die Stuttgarter Maske Teresa Annina Korfmacher, Jannik Mühlenweg und Valentin Richter in alte Menschen verwandelt, die nur ihre eigenen Interessen verfolgen, ist grandios.

Überzeugende Gesamtleistung

Im Zentrum dieser Aufführung steht die Pythia, die aus ihren Dämpfen zu den Menschen mit ihrer Botschaft herunter steigt und Ödipus zum Spielball der unterschiedlich an ihn ziehenden Kräfte macht, ohne dass er es wahrnimmt. Thomas Hauser als Gast von den Münchener Kammerspielen spielt diesen Ödipus als staunendes Kind. So ganz kapiert er nie, was da mit ihm gespielt wird. In seinem antikisierenden Kostüm im klischierten weißen Rock mit Plisseefalten, T-Shirt mit der knalligen Inschrift „Justice for all“ wirkt er wie ein trotziges Kind, das die Welt so haben möchte, wie sie immer schon war. Seine schönsten Momente sind, wenn er als weichgezeichneter Mitmensch agiert und im nächsten Augenblick in unkontrollierte Wutanfälle ausbricht, in denen viel Porzellan zertrümmert wird.

Meist ist der szenische Raum von Nina Peller höllenhaft in Rottönen eingetaucht: die Dürre lässt die Welt in Flammen aufgehen. Ein silbernes Podest zieht sich an drei Seiten um die Bühne, nach hinten abgeschlossen durch ein zweistufiges Gerüst mit großen Leitern. In dessen Mitte ist das überdimensionale Flachrelief einer in Ornamenten eingeordneten Medusenmaske zu sehen, mit großen leeren Augen, aus der manchmal Scheinwerfer blitzen, und aus dem Mund quellender Rauch. Auf diese Maske wird das auf den Mund konzentrierte Bild einer jungen Frau projiziert, die mit Computerstimme spricht – als eine von außen kommende Kommentarebene.

Stefan Pucher setzt alle Mittel ein, die man aus seinen bisherigen Inszenierungen kennt: Live-Videos, von Hannes Francke und Ute Schall aufgenommen, wechseln sich mit vorproduzierten, auf denen die Katastrophen der Welt zu sehen: Autocrashs, Überflutungen, etc. Über der Bühne prangt dazu der Spruch „See for Yourself“. Wenn eine Leinwand für die Videos herabgelassen wird, dann wollen auch zwei mächtige Krallenhände zupacken. Besonders, wenn der Chor aufritt, gibt es wummernde Discorhythmen, zu denen alte Menschen ganz jung tanzen. Mit Meike Boltersdorf (Vocal und Synthesizer) und Tim Neumaier (Posaune und Synthesizer) agieren zwei hervorragende Musiker. Musik, Video, die antikisierenden Kostüme, die zugleich zeitgenössisch wirken, Text und vor allen Dingen das hervorragende Ensemble verbinden sich zu einem überzeugenden Kunstwerk.

Dürre beherrscht diese Welt. Als Ödipus bei seiner Selbstforschung schon in flennende Verzweiflung ausbricht, kommt die Botin aus Korinth, um ihm mitzuteilen, dass der König tot ist und er der neue König ist. Josphine Köhler, einen toten Wolf hinter sich herziehend, ächzt vor Durst, ebenso wie die von Marietta Meguid gespielte Dienerin, die einst den Säugling an die Botin übergab, wie auch die sterbende Priesterin der Celina Rongen. Nachdem sich Ödipus die Augen ausgerissen hat, kann endlich der Regen einsetzen. Eine Befreiung ist das aber nicht, wie die Pythia herausschreit: Die Katastrophe ist systemisch gemacht und lässt sich nur ändern, wenn ein Systemwechsel stattfindet. Dabei agiert das Ensemble hinter der Leinwand, das Geschehen wird distanzierend mit einer Live-Kamera übertragen. Dieser Eingriff kann trotzdem nicht verhindern, dass sich allzu moralisierende Töne in einem ansonsten starken Text einschleichen, er schmälert in keiner Weise den starken Gesamteindruck, den Stück und Inszenierung hinterlassen.