Ein Selfie in der "Hamletmaschine"?

Stoff statt Stück

Heiner Müller: Die Hamletmaschine

Theater:Theater Krefeld Mönchengladbach, Premiere:07.12.2018Vorlage:William Shakespeare: HamletRegie:Nava Zukerman

Eigenwillige, sehr lebendige Aneignung des „Hamlet“ – Stoffes durch die israelische Regisseurin Nava Zukerman in Krefeld.

Heiner Müllers „Hamletmaschine“ besteht aus ganzen neun Seiten Text. 1977 kochte Müller Shakespeares berühmtestes Stück zu einem „Schrumpfkopf“ ein – als Gefäß für seine persönliche Haltung und Situation nach dem Selbstmord seiner Frau und der Biermann-Ausbürgerung. Das Ergebnis gilt als unzugängliche, kaum ausdeutbare Monstrosität von gewaltiger Sprachkraft. Und wird nach wie vor häufig gespielt.

Einen eigenwilligen Ansatz der Annäherung an diesen scheinbar erratischen Block wählt die israelische Regisseurin und Theaterleiterin Nava Zukerman am Theater Krefeld Mönchengladbach. Sie inszeniert eher den Stoff als das Stück und befragt ihn auf seine Heutigkeit.Zukerman verschneidet Müllers Text mit Passagen aus der Schlegel-Übersetzung von „Hamlet“, selbst Geschriebenem und offensichtlich auf den Proben Entwickeltem. Die „Hamletmaschine“ fungiert hier in erster Linie als Inspirationsquelle und Material.

Wobei zunächst die Ernsthaftigkeit des Versuchs beeindruckt. Von Beginn an machen Inszenierung und Ensemble klar, dass  sie hier öffentlich um Haltung ringen. Wie gehe ich heute mit meiner Gesellschaft um? Wie beurteile ich die aktuell ablaufenden politischen Prozesse? Stelle ich mich? Verhalte ich mich offensiv? Oder versuche ich mich wegzuducken?

„Es gibt nichts Soziales mehr, alles ist politisch“, konstatiert Horatio. Paul Steinbach, sehr präsent, auch als eine Art Reiseführer durch die Aufführung, spricht damit den zentralen Satz dieses Theaterabends. Die Familie Hamlet zerfällt nach dem Tod des Vaters. Der Mörder Claudius und die Witwe Gertrud sind zerrissen zwischen Machtgier und Schuldkomplex, rufen Krisen von außen herbei, um von sich selbst abzulenken, suchen sich Feinde, politisieren. Manchmal vielleicht eine Spur zu plakativ, um ihnen zu folgen. Ophelia und Hamlet zerbrechen an Hamlets Verhalten, an seiner Gerechtigkeitssucht, die ihn zwingt, das Spiel mitzuspielen, statt sich fernzuhalten. Und Horatio moderiert, mäßigt, wo möglich, versucht erfolglos, Konflikte zu glätten. Und spielt, wie alle an diesem Abend, zwei Rollen, Horatio und Paul. Mehrfach hält die Handlung an, wird gewechselt, vom fantastischen, von Lydia Merkel nur mit wenigen Möbeln bestückten Innenraum der alten Teppichfabrik Heeder ins Foyer und zurück, gibt es Wein, Tee oder Wasser für die Zuschauer. Und die Schauspieler sprechen, scheinbar, von sich selbst. Von ihrer Haltung, politisch wie zu Beruf oder Rolle.

Das Ergebnis ist eine überaus lebendige, schillernde  und sehr nuancierte Aneignung des „Hamlet“-Stoffes, die die Lebendigkeit und Heutigkeit dieser Geschichte zwingend nachweist. Und kurz vor Schluss sogar zwei fast utopische Blitzlichter setzt. Da führt Ophelia Gertrud und Claudius wie ertappte Missetäter rund um den Bühnenraum. Und hinterher spricht Claudius sein berühmtes Gebet, in dem er seine Schuld gesteht und Hamlet setzt sich auf seinen Schoss und umarmt ihn. Alles kann immer auch anders sein.

Die Bilder, die Aktionen, die Sprünge zwischen den Räumen und Sprachebenen stimmen, weil sie von den Schauspielern be- und gelebt werden. Der professionelle Charme von Crescentia Dünßer als Gertrud reißt dann mit, wenn er Risse bekommt. Claudius glaubt man seine Machtgier wie seine Verliebtheit und vor allem seine Freudlosigkeit, der sich der Schauspieler Michael Ophelders sozusagen freudig unterzieht. Und Jannike Schubert lässt in ausstrahlungsstarker, fast aggressiver Dezenz teilhaben an Ophelias progressiver Implosion. Bruno Winzens Hamlet schließlich ist ein hilflos wütendes Blockkraftwerk, ein Mann, dem seine Eigenschaften abhandengekommen sind.

Allerdings gibt es an diesem Abend auch einen Verlierer. Und das ist ausgerechnet Heiner Müllers Text. Er wird lustvoll und produktiv ausgebeutet und kann in diesem Kontext kein eigenes Recht mehr beanspruchen. Es geht nicht um die Annäherung an ein Meisterwerk, sondern um eine neue, eigene Theaterkreation. So verhallen die poetischen Phrasen, konventionell aufgeladen mit Gefühl oder verdoppelt durch „schöne“ konventionelle Bilder. Mit „Hier spricht Elektra“ beginnt das letzte, brutalste Textstück der „Hamletmaschine“. Jannike Schubert spricht es von oben, im roten Kleid, und lässt dabei rote Rosen fallen. Und der Text verschwindet.

Wer also puristische Sprachkunst sucht, die ja auch vieles für sich hat und Räume öffnen kann, ist in der Krefelder Fabrik Heeder definitiv falsch. Wer lebendige, energiegeladene, heutige Auseinandersetzungen mit klassischen Stoffen mag, sollte unbedingt hingehen.