Foto: Szene aus „Herkunft” am Nationaltheater Mannheim © Maximilian Borchard
Text:Manfred Jahnke, am 19. September 2021
Auf der Bühne des Mannheimer Nationaltheaters steht die Aral-Tankstelle aus dem Heidelberger Emmertsgrund (Bühne: Benjamin Schönecker), die in „Herkunft“ – dem 2019 mit dem Deutschen Buchpreis ausgezeichnetem Roman – für den Erzähler Saša Stanišić eine wichtige Rolle für seine Sozialisation als aus Bosnien geflohener Jugendlicher hat.
Der Ich-Erzähler, der alle Mittel des unzuverlässigen Erzählens beherrscht, jongliert in seinen Geschichten mit der Konstruktion seines Ichs und denen von seiner dementen Großmutter, die ihre Geschichten zu verlieren droht. Bei seinen Forschungen, worin seine „Herkunft“ denn bestehe, muss er feststellen: „Herkunft ist ein Konstrukt, eine Art Kostüm, das man ewig tragen soll, nachdem es einem übergestülpt worden ist.“
Wer wir sind
In ihrer kongenialen Bearbeitung des Buches für die Bühne bindet Johanna Wehner die autobiografischen Geschichten des Romans ein in die grundsätzliche Frage: Wenn Herkunft ein zufälliges Konstrukt ist, könnte dann nicht auch das sich aus erinnerten Erfahrungen definierende Ich ein zufälliges „Produkt“ sein? Statt eines einzigen Ich-Erzählers agieren nun vier Erzähler, die in glitzernden Kostümen und Glitter im Haar (Kostüme: Ellen Hofmann) auf der Suche nach dem Anfang von Geschichten sind.
Konsequent beginnt die Aufführung mit der Frage an das Publikum: „Woher kommen Sie?“ Mehr noch wird danach geforscht, welche „zwei Dinge“, die einem wirklich wichtig sind, man beim Verlassen des Zuschauerraums mitnehmen würde? Im komplexen Spiel zwischen theatraler Grundsituation und „Originaltext“ entwickelt diese Inszenierung einen intensiven Sog: Auch wenn das direkte Anspiel des Publikums fiktiv bleibt (es wird nicht aus dem Raum geschickt), fordert die Frage nach der Bedeutung der zwei Dinge nachdenkende Erinnerung heraus und findet sich in den Geschichten von „Herkunft“ wieder. So wie Johanna Wehner die Vorlage mit ihren Geschichten auf der Bühne überschreiben muss, so überschreibt wiederum das Publikum mit seinen Erfahrungen das Gesehene und entwickelt es weiter.
Eigene Entscheidungen
Auf der Suche nach dem Anfang von möglichen Geschichten spielen László Branko Breiding, Matthias Breitenbach, Christoph Bornmüller und Patrick Schnicke entertainer-haft mit der Vorlage und dem Publikum. Johanna Wehner gelingt es dabei, trotz starker Kürzungen die Essenz der Vorlage so zu wahren, dass nichts vermisst wird. Selbst das Spiel der verschiedenen Schlüsse beim Besuch des Autors im Altenheim seiner Großmutter wird beibehalten und direkt an das Publikum weitergegeben: „Du entscheidest!“
Vor der Entscheidung merke ich als Zuschauer, wie viele Möglichkeiten ich hätte, (eigene) Geschichten zu erzählen. Von „Großmutter sieht ein Mädchen“, (nämlich die 87-Jährige die 11-Jährige, die sie einmal war) bis hin zu den vielen möglichen Geschichten im Altenheim wird alles erzählt. Erstaunlich, wie es dabei gelingt, die Authentizität des Erzählens zu bewahren.
Starkes Erzähltheater
Es ist unmöglich, dabei einen der Spieler hervorzuheben: Lásló Branko Breiding, Matthias Breitenbach, Christoph Bornmüller und Patrick Schnicke agieren als starkes Team, freundlich dem Publikum zugewandt, einander zuhörend. Sie entwickeln dabei ein hohes Spieltempo, das jenen Sog ermöglicht, dem sich der Zuschauer nicht entziehen kann. Spannendes, anregendes Erzähltheater, das zugleich mit den Mitteln des Theaters spielt. Stark!