Foto: Daria Hlinkina und Ensemble in „Underdog“ am Staatstheater Mainz © Andreas Etter
Text:Miguel Schneider, am 10. Juni 2025
Am Staatstheater Mainz choreografiert Alan Lucien Øyen ein vertracktes Machtspiel: Ein schmaler Lichtstreifen trifft auf ein mobiles Stuhl-Labyrinth, in dem der „Underdog“ um Sichtbarkeit zu ringen scheint, bis das soziale Gefüge buchstäblich kippt.
Am Abend der Uraufführung von „Underdog“ holen prompt Luftgeräusche aus dem Off die Natur ins Staatstheater Mainz. Ein Mitglied des 23-Köpfigen tanzmainz Ensembles tritt vorsichtig in die Lichtschneise am vorderen Bühnenrand und erkundet Schritt für Schritt die Grenzen. Es geht dabei weniger um das Begrenzen, als um das Erforschen selbst. Das dunkle Oberteil – vorn blickdichter Stoff, hinten durchscheinender Tüll, eine bewusst genderfluide Kreation von Kostümbildnerin Stine Sjøgren – macht Fassade und Verletzbarkeit unmittelbar sichtbar und gibt den Ton des rund zweistündigen Tanzstücks vor.
Sobald das restliche Ensemble auf die Bühne tritt und sich in zwei präzisen Reihen positioniert, wird der Gegensatz klar, der von unterschiedlichen Perspektiven beleuchtet werden soll. Sie spiegeln einander im Sekundenversatz, uniformiert in weißen Ripp-Shirts und weiten, dunklen Bundfaltenhosen. Doch bei dem norwegischen Choreografen Alan Lucien Øyen ist Gleichschritt keine Drillparade, sondern gespannte Ruhe – die Frage, wer zuerst ausschert, schwebt in jedem hörbar konzentrierten Atemzug der Tänzer:innen.

Maasa Sakano und Federico Longo. Foto: Andreas Etter
Im Sog der Gruppe
Die Antwort kommt prompt: Drei Körper bleiben zurück, das Licht schlägt in fahles Grau um, und ein hastig tickendes Metronom zerschneidet die Stille. „Schläfst du noch nicht?“ – der erste gesprochene Satz öffnet Øyens typisch fließende Übergänge zwischen Text und Tanz. Während Worte wie „Ich bin immer noch hier“ im Raum verhallen, schwingen die Körper wellenartig und rund umeinander, als würden sie in unsichtbares Wasser tauchen. Dramaturgisch reizvoll ist, wie Langzeit-Arbeitspartner Daniel Proietto das Bewegungsvokabular des Choreografen mit feinen Verzögerungs-Echos anreichert: Das Kollektiv antwortet dem Solo nie im Gleichton, sondern mit verschobenen Silben im Körper, was die Idee des „Underdog“ – ein Außenseiter, der zunächst als vermeintlich Unterlegene alle überrascht – raffiniert spiegelt: stets ein Hauch später, stets eine Winzigkeit anders.
Doch sobald einzelne Duette und Terzette auftauchen, gerät der Text ins Stolpern. Phrasen wie „No one will ever love you for everything you are“ markieren zwar klar die Themen Selbstzweifel und soziale Bewertung, bleiben aber sprachlich blass. Anderswo formuliert Øyen poetischer, etwa wenn er den weißen Vogel-Chor („Hello little friend… you and me, we could be the same“) aufzieht und dabei Gunnar Innværs Sounddesign vom Läuten romantischer Klavierzitate aus Debussys „Clair de lune“ auf eine dröhnende Atmosphäre prallen lässt. Dieser abrupte Stilbruch beschleunigt das Spannungsfeld zwischen Masse und Individuum: vorn kauert der Underdog als schwarze Silhouette, hinter ihm exerziert das Ensemble im grellen Flutlicht synchrone Kick-Serien.

Amber Pansters inmitten der Stuhlstruktur. Foto: Andreas Etter
Holzlabyrinth der Zweifel
Herzstück des Abends sind die Stuhl-Skulpturen, aus denen Bühnenbildner Åsmund Færavaag zunächst eine Schneckenspirale baut und später ein begehbares Labyrinth, das wie ein urbaner Wald erscheinen soll. Die Idee entspringt, so Færavaag, einer Klassenzimmer-Beobachtung: Stühle werden zum Ordnungs- und Machtmuster der Gesellschaft. In diesem Geflecht zwingt eine Redner:in das Publikum in die Starre – sitzend, bewegungslos wie ein Panel der gesellschaftlichen Urteilskraft, während Torkel Skjervens Licht „nicht neutral sein will“, sondern Sichtbarkeit als Machtfrage setzt und das Selbstbild zum winzigen Schatten auf der Rückwand schrumpfen lässt.
Im Inneren der Spirale stellt sich ein Gruppenmitglied auf seinen Stuhl und beklagt in einem Monolog seine innere Bedrohung. Moment der Panik, als ein Gegenüber zielsicher in die Spirale stürzt: Hände werden zu Klammern, Blicke zu Zügeln, der Raum selbst vibriert.

Das bühnenfüllende tanzmainz Ensemble. Foto: Andreas Etter
Tänzerisch besticht der Abend in der Mikrochoreografie: Ein Kopfstand kippt scheinbar mühelos in ein Bodenduett, Fäuste ziehen scharfe Linien durch die Luft, nur um im nächsten Moment in zärtliche Gesten aufzulösen. Dass 23 Menschen fortwährend zwischen Gleich- und Gegenklang wechseln, ohne je den Überblick zu verlieren, ist ein beeindruckendes Ausrufezeichen für das Niveau von tanzmainz.
Wenn das System stürzt
Øyen treibt das Thema auf die Spitze, als ein nackter Körper über die Bühne kriecht – „Ich bin nichts als Scham, aber du schaust nie zurück“ –, während obenauf Stühle wie Dominosteine fallen. Seit „Le Sacre“ 2022 stand das gesamte Ensemble nicht mehr gemeinsam auf der Bühne – hier wird die Masse als Druckkammer genutzt. Der Tabubruch funktioniert, weil er inhaltlich verankert ist: Verletzlichkeit wird nicht ausgestellt, sondern befragt. Mit einem symbolischen Knall kippt eine riesige Holzplatte flach auf den Bühnenboden, nur der ausgesägte Stamm bleibt stehen und wirft Schatten. Natur bildet hier nicht Utopie, sondern Fragment; die Wurzel fehlt.

Lin van Kaam, Milica Bajčetić und Maasa Sakano. Foto: Andreas Etter
Doch gerade in dieser Übersteigerung lauert die Grenze zur Überfrachtung. Einige Textschleifen drehen sich zu lange, bis die anfängliche Beklemmung verfliegt. Umso wirkungsvoller ist, dass Øyen mit Humor entlastet: Ein kollektives „Macarena!“-Aufschreiben samt ironischem Hüftschlenker sorgt für ein befreiendes Publikumslachen, ohne das Thema zu verraten.
Der Abend erzählt kein lineares Heldenmärchen, sondern eine Versuchsanordnung über Zuschreibungen, Ohnmacht und den Gedanken, Strukturen zu verrücken. Nicht jeder Satz trifft die Liebe für Details in der Bewegung, doch Øyens poetischer Realismus zeigt, wie fragil Ordnung ist.