Foto: © Bernd Uhlig
Text:Sören Ingwersen, am 19. Mai 2025
Unsuk Chins zweite Oper verortet die „Faust“-Tragödie zwischen naturwissenschaftlicher Hybris und psychoanalytischer Traumdeutung. Das Theaterkollektiv Dead Centre inszeniert „Die dunkle Seite des Mondes“ an der Staatsoper Hamburg mit schwebenden und pendelnden Bühnenteilen und dreidimensionalen Projektionen.
Ein „Faust“-Stoff in der eigenen Künstlerbiografie macht sich immer gut. So steht auch in Unsuk Chins zweiter Oper „Die dunkle Seite des Mondes“ ein genialer Wissenschaftler im Mittelpunkt, in dessen Brust zwei Seelen wohnen, und dessen Hybris ihn in die Arme des Teufels treibt. Die Uraufführung an der Staatsoper Hamburg beginnt mit einem visuellen Knaller: Zu Klangballungen im Orchester scheint der leuchtende Studierzimmerkasten des Physikers Dr. Kieron auf der Bühne zu schweben wie ein Zentralgestirn in der Schwärze des Weltalls. Plötzlich driften Wände, Boden und Decke auseinander. Kieron hängt buchstäblich in der Luft, eingefasst in dreidimensional projizierte geometrische Körper.
Das Jahr 2025 ist das „Jahr der Quantenmechanik“, die vor hundert Jahren von mehreren Wissenschaftlern erarbeitet wurde, darunter auch der Physiker Wolfgang Pauli, der sich bei Carl Gustav Jung einer psychoanalytischen Behandlung unterzog. Dieses historische Zweigespann inspirierte Chin zu ihrer fiktiven Geschichte, in der es um die Auflösung vermeintlicher Verlässlichkeit geht. Denn wie die Quantenphysik gezeigt hat, dass die Welt, wie wir sie wahrnehmen, nicht der Realität entspricht, hat die fast zeitgleich entstandene Psychoanalyse gezeigt, dass unbewusste Kräfte unser Handeln bestimmen und unser inneres Kontrollzentrum sabotieren. Der Mensch als strahlender Lenker und Leiter seiner eigenen Geschicke war damit passé.
Angriffslust und Selbstherrlichkeit
Davon ahnt Kieron zu Beginn der Oper noch nichts. Mit bösem Spott vergrätzt er seine Kollegen – ein arroganter Niedermacher, den man nicht zum Feind, noch weniger zum Freund haben möchte. Mit jähen Ausbrüchen und Schlagwerkattacken unterstreicht das Philharmonische Staatsorchester unter der Leitung von Kent Nagano die verbale Angriffslust des selbstherrlichen Welterklärers, dem in drei Aufführungsstunden kaum eine Sangespause vergönnt ist. Der amerikanische Bariton Thomas Lehman meistert diesen Kraftakt stimmlich mit Bravour, manövriert aber etwas unsicher durch die enorme Textmasse seiner Partie. Lehman zeigt uns einen Menschen, der ein Doppelleben führt, der auch nachts in zwielichtigen Etablissements sein Ego kräftig aufbläst und von Träumen geplagt wird, die Quelle seiner wissenschaftlichen Inspiration, aber auch seiner Angstzustände sind. Seltsame Gestalten wie das Lichtwesen (Andrew Dickinson), Anima (Kangmin Justin Kim) und das lichte Mädchen (Narea Son) bedrängen ihn, so dass er schließlich Hilfe beim dubiosen Seelendoktors Astaroth sucht.

Chor der Hamburgischen Staatsoper. Foto: Bernd Uhlig
Als charismatischer Wunderheiler, der den glücksbetäubten Mitgliedern seiner weiblichen Sekte der Reihe nach mit energetischer Handarbeit zu Leibe rückt, ist der dänische Bariton Bo Skovhus die dunkle Lichtgestalt des Abends. Seine Stimmpräsenz beeindruckt ebenso wie seine abstoßende Verführungskunst, mit der er Kieron zu seinem Verbündeten macht. Da kann auch die treuherzige Miriel nicht mehr helfen, die Einzige, die den Menschen Kieron wirklich liebt, die in der Verkörperung durch die australische Sopranistin Siobhan Stagg aber etwas blass bleibt.
Lichtkörper und Live-Kamera
Was das regieführende britische Theaterkollektiv Dead Centre alias Ben Kidd und Bush Moukarzel gemeinsam mit der Video-Künstlerin Sophie Lux auf die Beine stellt, hat dagegen großen Schauwert. Im sparsam ausgestatteten Bühnenraum sorgen großformatige geometrische Lichtkörper, schwingende Pendel und Live-Kamera-Bilder für sinnfällige Kurzschlüsse zwischen Kierons Innen- und Außenwelt. Doch das große Fragezeichen, welchen neuen Blick auf den bekannten „Faust“-Stoff uns diese Oper geben will, wird dadurch nicht beiseite gewischt. Das von Chin selbst verfasste Libretto reiht Metaphern, sprachliche Bilder und Sentenzen zu einer philosophischen Ideensammlung, die auf Dauer ebenso ermüdet wie die an- und abschwellenden Cluster, die die Philharmoniker aus dem Orchestergraben drücken. Die klanglichen Grundierungen, die sich wellenartig zu vom Schlagwerk forsch aufgepeitschten Erregungsmomenten steigern, weisen zwar ein großes Farbspektrum auf, lassen in ihrem rastlosen Strom aber kein Entwicklungsmuster erkennen.
Als am Ende der teuflische Astaroth die Träume stiehlt, was Kieron in die Verzweiflung treibt, scheinen wir Goethes Universum endgültig verlassen und das Märchenreich von Michael Endes „Unendlicher Geschichte“ betreten zu haben, wo der Mensch durch das Schwinden der Träume und der Fantasie den konstruktiven Umgang mit der Welt und die Fähigkeit zu Lieben verlernt. Eine sympathische Geschichte. Aber für einen dreistündigen Opernabend zu dünn.