Szene aus "Die Mitbürger"

Spuren am rechten Rand

Annalena und Konstantin Küspert: Die Mitbürger

Theater:Hans Otto Theater, Premiere:27.01.2023 (UA)Regie:Esther HattenbachKomponist(in):Johannes Bartmes

Darf’s ein Gläschen Weißwein sein? Oder ein Bier? Das erste Getränk geht auf’s Haus – der neue Verein lädt die potenzielle Neu-Mitgliedschaft ein; uns, das Publikum. Katja Zinsmeister, Franziska Melzer und Charlott Lehmann, Joachim Berger und Philipp Mauritz mischen sich unter uns am Eingang zur Reithalle vom Hans-Otto-Theater in Potsdam; kommunikativ, freundlich, geschäftig … Menschen wie Sie, wie Du und auch ich. Als sollten wir für eine Weile vergessen, dass die fünf Aktivistinnen und Aktivisten natürlich zum Ensemble des Hauses gehören.

Wenn dann das erste Gläschen, das erste Fläschchen ausgetrunken ist, sitzt ein kleinerer Teil von uns an Tischen mit auf der Bühne, der Rest im normalen Theater-Gestühl; und das Ensemble, unterstützt vom Party-Pianisten Johannes Bartmes, bemüht sich in Esther Hattenbach Uraufführungsinszenierung von „Die Mitbürger“ ziemlich lange darum, den Eindruck der freundlich-friedlichen Vereinsgründung aufrecht zu erhalten.

Bloß kein Theater – so niederschwellig wie irgend möglich will uns das neue Stück von Annalena und Konstantin Küspert zum Mit-Denken verführen; denn „Mitbürger“ sind wir ja letztlich alle. Was da ein Verein erst noch werden möchte, möglichst gemeinnützig, auch aus steuerlichen Gründen, soll auf jeden Fall aussehen und sich anhören wie ungezählte Nachbarschafts-Gruppen sonst im Lande.

Und was gibt’s auch zunächst einzuwenden gegen die erklärten Ziele der Gruppe? Gar nichts. Eigenständiges Denken, gemeinsames Handeln und „Bürgerbewusstsein“ fordern sie ein – der unabhängige Journalist, die Architektin samt tischlernder Tochter, die Künstlerin mit Coaching-Ambition und deren älterer Freund, beide noch im alten Osten aufgewachsen und so etwas wie der ideologische Doppel-Kern der neuen Gruppe.

Krude Ideen von Gemeinschaft

Wie sie das Wesen von Bürger und Bürgerlichkeit ethymologisch herleiten, führt zwar ein bisschen in die Irre – aus der historischen Notwendigkeit der Verteidigung von Burgen nämlich und eben nicht harmlos aus der lateinischen „civis“-Bevölkerung; deutsche Bürgerinnen und Bürger seien darum halt weitaus kämpferischer als schlichte „Zivilisten“. Naja. Den französi-schen „bourgeois“ übergehen „Die Mitbürger“ dabei – wohlweislich; denn genau das sind sie: Teil einer Bürger-Klasse, die ohnehin im Mittelpunkt der Gesellschaft steht und herrscht. Nichts und niemand ist strukturell besser positioniert als gerade sie in der parlamentarischen Demokratie, wie wir sie kennen.

Sie wollen aber mehr.

Sie fühlen sich nicht mehr wohl, nicht mehr „repräsentiert“. Darum wollen sie die Entscheidungen fortan lieber selber treffen – nicht mehr „vertreten“ durch Politikerinnen und Politiker auf allen gesellschaftlichen Ebenen, sondern selber. Wie gerade die Fremdenfeinde von Grevesmühlen … wie diese Mitbürger sich die neue Teilhabe allerdings konkret vorstellen (und wie sie sie uns, dem Publikum, als Modell für neue Gemeinschaftlichkeit anpreisen wollen), sagen sie noch nicht – weshalb bis hierher der eine oder die andere im Publikum womöglich noch mitgehen würde.

Je mehr Masken aber fallen – das heißt: wie deutlich und mit der Zeit offen Motive und Absichten der Vereinsgründer zutage treten –, desto gefährlicher wird der Weg dieser Ideologen der Gemeinschaftlichkeit.

Was ist zumutbar?

Der Dipl. Ing., eine Art Vaterfigur in der Gruppe, philosophiert viel über „Freiheit“ an sich, setzt die aber schon bald in Gegensatz zur Demokratie; er steuert im übrigen (als Theater im Theater) eine ziemlich hanebüchene Begegnung von Georges Danton, Wilhelm Tell und Immanuel Kant zur Versammlung bei. Die Künstlerin an seiner Seite findet zunächst moderne Kunst zutiefst verachtenswert; weil sie erfolgreicher ist als die eigene je war? In einer Art Vernissage mittendrin stellt sie allerdings ihrerseits eigene Werke vor, die weit unter den Standards der Moderne rangieren.

Die Architektin ist vor allem als Mutter angewidert von der Gegenwart, die die alten „heiligen“ Werte für die Frau gar nicht mehr achtet – nämlich Mutter und Hausfrau zu sein. Der unabhängige Journalist schließlich sprengt die Gemeinsamkeit im Quintett – als er endlich mal erklären will, was tat-sächlich geschah beim Sturm auf den Reichstag Ende August 2020, und dafür eine Menge an hetzerischem, rassistischem, rechtsradikalem Gedanken-Gut zu Wort kommen lässt; ziemlich ungefiltert. Hier steigt die junge Tischlerin aus – aber nur um sich als Fundamental-Aktivistin im Kampf ums Klima zu „outen“. Und als solche verachtet sie die repräsentative Demokratie genauso wie alle anderen auch.

Hier, im Streit der Propagandisten mitbürgerlicher „Gemeinschaftlichkeit“, könnte durchaus Schluss sein: viele Stimmen, Streit bis aufs Messer, keine Lösung nirgends. Wie im wirklichen Leben – aber genau in diesem Moment spektakeln sich Stück und Inszenierung sehr gründlich zurück ins Theater. Denn die fünf Mitbürger beginnen einander nun handfest zu attackieren. Messer und Kettensäge kommen zum Einsatz, in monströsem „Grand Guignol“-Delirium wird sogar mit zersägten Körperteilen um sich geworfen. Endgültig wird Theater also wieder zum Theater – und erstaunlicherweise wirkt dieses Grusel-Finale viel harmloser, ja gemütlicher als jene Momente, in denen „Die Mitbürger“ uns wirklich zu verführen versuchten.

Ein anderes Problem dieser tendenziell sehr angemessenen Spurensuche am rechten „Mitbürger“-Rand steckt schon in Stück und Text – spätestens in der Reichstags-Reportage wird es durchweg unerträglich, dem verlogenen Unfug des Journalisten-Schrats zuzuhören; derart distanzlos kommen hier Fake-Fotos und Verschwörungstheorien der extremen Rechten auf die Bühne, dass zumindest die Frage erlaubt sein darf, wie viel davon dem Publikum wirklich zugemutet werden muss. Diese fürchterlichste Provokation im Stück sprengt nicht nur die „Mitbürger“-Bande – sie geht auch bis an die Grenzen dessen, was das Theater verantwortlich leisten kann.

Die „Verführung“ jedenfalls ist hier zu Ende.