Frank Dolphin Wong und Melanie Forgeron

So fern und doch so nah

Benjamin Britten: The Rape of Lucretia

Theater:Theater Bielefeld, Premiere:25.05.2014Regie:Andrea SchwalbachMusikalische Leitung:Elisa Gogou

„The Rape of Lucretia“ ist, zumindest vordergründig, ein sprödes Stück, einerseits schmucklos-linear erzählt, andererseits arg episch-distanziert vermittelt. Dennoch packt Andrea Schwalbachs Inszenierung von der ersten bis zur letzten Minute. Sie holt die Handlung in eine fiktive computerlose Gegenwart und verpasst ihr eine analytische Struktur. Brittens skrupulöse, Geschlechterrollenbilder befragende Chorus-Figuren agieren hier als Ermittlungsbeamte in einem juristischen Verfahren. Sie stellen mit allen Beteiligten die Vorfälle nach, die zur Vergewaltigung der sich durch ihre Liebe und Treue zu ihrem Gatten definierende Lucretia durch den sich über seine Unwiderstehlichkeit definierenden Potentaten Tarquinius führen. Die Untersuchung läuft tragisch aus dem Ruder. Lucretia verkraftet das erneute Durchleben der Vorgänge nicht und begeht Selbstmord.

Schwalbach ändert nicht nur die dramatische Struktur, sie deutet auch das Selbstmordmotiv um. Neben Scham spielt die unausgesprochene Ermutigung durch den geliebten Gatten eine entscheidende Rolle. Der wiederum räumt auf diese Weise Tarquinius aus dem Weg und wird selber Herrscher. Es geht nicht um Liebe oder Recht. Es geht ums Gewinnen. Um die Macht. Hier auch und vor allem als männliches Attribut.

Anne Neuser hat einen offenen, von Aktenordnern dominierten Büroraum entworfen. Die Requisiten und Kostüme werden als „Beweisstücke“ einem Gitterwagen entnommen. Es wird gekonnt mit Klischees gespielt – wie etwa dem unvermeidlichen Büro-Kaffee oder der aus tausenden Krimi- und Krankenhausserien bekannten Jalousie. Wenn Lucretia sich umzieht, geht sie in einen mit milchiger Folie verkleideten Raum. Ihre Bewegungen sind zu ahnen. Der Zuschauer wird zum Voyeur.

Etliche solcher klug beobachteter Einzelheiten verbinden sich zu einem schlüssigen Theaterabend. Daran hat die junge Elisa Gogou, die erste Kapellmeisterin des Bielefelder Theaters, einen großen Anteil. Sie setzt der kleinteiligen Analyse auf der Bühne Direktheit entgegen, unerbittliches Voranschreiten. Diese von den 12 Musikern fantastisch gespielte Musik weiß mehr als der Zuschauer, viel mehr als die Figuren, kommt klar und mitleidslos daher, selbst in den fast verführerisch sinnlichen Ensembles im zweiten Teil. Sanfte Streicherkantilenen, das vogelhafte Aufzwitschern der Piccoloflöte, all die kleinen Momente, die aus dem introvertierten Sinnsucher Britten so leicht einen Sentimentalisten machen können, wirken hier wie gläsern ironische Kommentare.

Dazu ist es ein großer Abend des Bielefelder Sängerensembles. Mit großer Lebendigkeit fräsen sich die, nur an wenigen Stellen etwas überaktionistisch geführten, acht Solisten förmlich hinein in den schwierigen Stoff und erfinden glaubwürdige, lebensechte und dabei stets kunstvolle Figuren. Moon Soo Park (Collatinus) und Cornelie Isenbürger (Lucia) lassen überdies außergewöhnliches stimmliches Material hören. Frank Dolphin Wong bringt das Kunststück fertig, dem Wüstling Tarquinius zumindest ein wenig menschliches Potential abzuringen und Melanie Forgeron stellt ihre Alt-Noten so schmucklos statuarisch hin, dass sowohl Lucretias Stärke als auch ihre Verletzlichkeit sinnlich erfahrbar werden.

Im Mittelpunkt der Aufführung stehen Melanie Kreuter und, etwas weniger prägnant, Daniel Pataky als weiblicher und männlicher Chorus. An ihren Figuren zeigt Andrea Schwalbach zwingend, warum sie dieses in vielem so altmodisch wirkende Stück heute auf die Bühne bringt. Es geht schlicht um Haltung, um ein existenzielles Ringen um Einordnung im ethischen, gesellschaftlichen, privaten Kontext. Das geht unter die Haut und wirkt bestürzend anachronistisch.