Foto: Anke Stoppa in einem berührenden Solo © Stefan Hoyer
Text:Tobias Prüwer, am 28. April 2018
Jürgen Zielinski inszeniert einen berührenden Monolog über das Asperger-Syndrom: „Regarding the Bird“ am Leipziger Theater der jungen Welt
„Ich würde aber gern in dieser Klasse bleiben, hier, bei euch“, einsilbig bringt die junge Frau, die sich soeben als Hannah vorgestellt hat, die Worte hervor. Sie wolle nicht in die Förderschule abgeschoben werden, bekräftigt sie mit schwacher Stimme. „Das ist mir wichtig, denn ich habe das Gefühl, dass ich hier weiterkomme, und dass ich, trotz aller Schwierigkeiten und trotz allem, was mit dem Vogel passiert ist, gern hier bin…“ Und dann will sie ihren Mitschülern erklären, wie das so ist, als Mensch mit Asperger-Syndrom durch die Welt zu gehen. Es folgen 60 Minuten anrührende Selbsterklärung am Leipziger Theater der Jungen Welt.
Mit „Die Sache mit dem Vogel“ hat der israelische Autor Nitzan Cohen ein Stück mit interessantem Dreh ausgetüftelt. Die Zuschauer befinden sich in einer Klassenzimmersituation mit Frontalunterricht. Vorn am Tisch steht Hannah und erklärt mittels Powerpoint-Präsentation, wie es ist, in einer Umgebung zu leben, in der andere kein Asperger haben. Sie hält ein Referat über sich selbst. Man erfährt, dass sie Emotionen bei anderen nicht gut lesen kann. Soziale Codes bereiten ihr Schwierigkeiten, mal überschreitet sie Distanzen, mal die Lautstärke. Allmählich entgleitet ihr die Ordnung: Als ihre Zettel durcheinandergeraten, wird plastisch, wie sehr Hannah Struktur braucht. Man leidet mit ihr mit und lacht auch mal über unfreiwillig komische Momente. Cohen gelingt ein hübsches Stück Aufklärung ohne Belehrung, ein klassischer „Siehe, ein Mensch“-Moment. Regisseur Jürgen Zielinski unterstützt diese Kraft der Situation, indem er ganz auf seine Schauspielerin setzt.
Mit der deutschen Erstaufführung (Übersetzung: Mirjam Pressler) kehrt das langjährige Ensemblemitglied Anke Stoppa auf die TdJW-Bühne zurück. Im vergangenen Jahr war das Stück als englischsprachiges Gastspiel (Nephesh Theatre, Tel Aviv) in Leipzig zu sehen. „Anke saß damals hinter mir“, erklärt Intendant Jürgen Zielinski. „Ich habe ihre Reaktionen mitbekommen und sie dann gefragt: ‚Würdest du das auch gern spielen?‘“ Sie habe natürlich zugesagt. Ein witzig-kluger Stoff und eine ausgezeichnete Schauspielerin: Hier kam zusammen, was zusammengehört. Stoppas Wandelbarkeit – man erinnere sich an ihre Hauptrolle im mit dem Theaterpreis DER Faust prämierten „Ginpuin“ (Regie: Jürgen Zielinski) – ist immer wieder erstaunlich. Hier wird sie zur extrem schüchtern-unsicheren Hannah, die bei jedem Satz mit sich ringt, das Klassenzimmer nicht doch wieder zu verlassen. Kaum wagt sie, die Blicke an ihre Mitschüler zu richten, dann ist sie plötzlich zentimeternah vorm Zuschauer, zeigt ihre Narbe am Kopf. Verknotete Finger, wringende Hände, schabender Fuß: Mit kleinen gestischen Details unterstreicht Stoppa ihren Charakter. Die Grenzüberschreitungen in der Nähe, kurzes Rausrennen und Wiederkehren und plötzlicher Mut beim Musizieren mit der Loopmaschine stellen Hannahs Innenleben gut heraus, sodass der Text eben nicht nur Behauptung ist.
Aufgrund der Zurückhaltung, diese Situation durch diesen oder jenen Effekt und noch eine Regieidee aufzupeppen, ergibt sich eine intime Beziehung zwischen Hannah und dem Publikum. Nur das schöne Schlussbild gibt etwas Zurückhaltung auf, aber ist in sich schlüssig-wirkungsvoll: Hannah erzählt von der „Sache mit dem Vogel“, wie es eben dazu gekommen ist. Aus Versehen hat sie die Kamera ihres Tablets eingestellt. Und so sieht man in der Projektion statt der Powerpoint-Präsentation nun die verwackelte Hannah zu sehen, nur noch näher. Ein hübscher Dopplereffekt, der Hannahs Verzweiflung unterstreicht, bevor das Tablet und der Zuschauerblick in den Rucksack wandern und die kleine Heldin ihre Selbsterklärung mit dem Türenklappern beendet.