Foto: Marian Müller (Wächter II), Markus Gruber (Wächter I), Karsten Jesgarz (Josef K.) und Minseok Kim (Prügler) in der Kafka-Oper „Der Prozess“ © H. Dietz Fotografie, Hof
Text:Roland H. Dippel, am 20. Juni 2021
Kaum etwas ist so erbarmungslos wie die Ungewissheit. Das erlebt Josef K., als ihn ominöse Stimmen an seinem 30. und 31. Geburtstag zur Gerichtsverhandlung rufen. Ursache des Verschuldens, Delikt und Strafumfang werden ihm in Franz Kafkas während des Ersten Weltkriegs entstandenen Romanfragment vorenthalten. Die Musiktheater-Sparte des Theater Hof erwachte am Samstagabend mit der hausgemachten deutschsprachigen Erstaufführung des 2015 in Magdeburg und 2019 am Salzburger Landestheater mit dem englischen Originallibretto Christopher Hamptons gespielten Oper aus der von Änderungshochdruck begleiteten Corona-Starre. Philip Glass und auch Kafka kommen in der Ersatzspielstätte Schaustelle neben dem derzeit unter Gerüst stehenden Theatergebäude an der Kulmbacher Straße vollauf zu ihrem ganz unterschiedlichen und letztlich kohärenten Recht.
Der Dirigent Clemens Mohr und Regisseur Lothar Krause übersetzten das Textbuch selbst, nachdem sie in der Spielzeit 2019/20 im Studio Glass‘ erste Kafka-Oper „In the Penal Colony“ erarbeitet hatten. Jetzt halfen sie auch bei der szenischen Realisation etwas nach, weil im angelsächsischen Wortlaut Kafkas faszinierend verwirrende Metaphern ihre Vieldeutigkeit einbüßen mussten. Ambivalenz wird im Englischen zu Signifikanz, aus dem „Prozess“ mit seiner Bedeutungsvielfalt von „juristischer Akt“, „Entwicklung“, „moralisches Tribunal“ die Eindeutigkeit als „Gerichtsverhandlung“. Mohr und Krause lassen in den instrumentalen Vor- und Zwischenspielen vom Ensemble originale Kafka-Texte sprechen, was etwas von der mysteriösen Grundstimmung des Romans in die Oper bringt. Es bleibt also – poetisch stimmig und dramaturgisch korrekt – genügend rätselhaft.
Mit einfachen, wirkungsvollen Mitteln drängt Krause in seiner Inszenierung immer forcierter zu einer sexuell aufgeladenen Sichtweise. Ständig kreist die Drehbühne (Ausstattung: Annette Mahlendorf) mit höherem Tempo als Glass‘ musikalischem Puls. In der Geschwindigkeit eines Ringelspiels wechseln zwischen betonfarbenen Mauern unter Neonröhren Zellen mit schlichtem Mobiliar aus dem ersten Drittel des 20. Jahrhunderts. Da sitzt schon mal ein Skelett im Schaukelstuhl. Herr K. hetzt mit vorsichtig zurückhaltender Neugier oder mutiger Lust durch die Räume.
Im Alten Prag und in ganz Europa war klar, wo die größten Gefahren für den Mann lauern: Ewig lockten die Weiber – mit roten Schuhen, roten Lippen und großen ummalten Augen. Bei Krause fühlt sich Josef K. ertappt bei dem, was er tun will und doch nicht tut. Ein Fall von chronischer Angst vor der Gedankenpolizei. Und so sind K.s Bezugspersonen nur selten Amtsschimmel mit Eierrümpfen, die nicht so recht über den Anlass und die Auswirkungen ihres offiziösen Tuns Bescheid wissen. Josef K. kommuniziert mit Männern, die ausstaffiert sind wie Zirkusdirektoren, Rabbis, Priester. Der Kunstmaler Titorelli steht im Outfit zwischen Dandy und Laienbruder wie Franz Liszt vor seinen Weihen. Ein Schnupperpraktikant der Lasterhaftigkeit ist dieser Josef K., der mit dem eigenen Zwangsdenken mindestens ebenso gestraft ist wie mit der Androhung des ihn in eine existenzielle Krise stürzenden Prozesses. Dass diese Bühnenwelt auch nach den Obsessionen in Kafkas Literatenhirn fragt, verraten Siebdruck-Porträts des Autors in Rot und Schwarz auf weißer Leinwand.
Das Theater Hof hat den passenden Mann mit der richtigen Stimme für die komplexe Zentralpartie. Karsten Jesgarz zeigt und spielt, dass er wesentlich älter ist als ein von Ermattung bedrohter 30-Jähriger. Er ist nicht der sanft-smarte Typ zwischen Musical und lyrischem Bariton, wie er in Glass-Opern oft zum Einsatz kommt. Mit stechender Diktion und fragenden Tönen wirkt Jesgarz‘ Charaktertenor ideal, seine intellektuelle und den Abend tragende Energie ist feinporig, nachdrücklich und spielt sich doch nie aus artistischem Überdruck in den Vordergrund.
Es gibt auch keine elektroakustische Verstärkung der Singstimmen und der kleinen Besetzung aus den Hofer Symphonikern. Ein Abend also ohne Sounddesign oder hypnotische Minimal Music-Klischees. Es ist nicht ganz klar, ob die Weill-Assoziationen eher von Glass selbst oder von Clemens Mohr kommen. Im zweiten Teil steuert Mohr für die ariosen Monolithe von Jesgarz mit seinen Kollegen Igor Storozhenko und Minseok Kim in eine fast Janáček-hafte musikalische Dichte. Die Stimmen von Stefanie Rhaue, Yvonne Prentki und Inga Lisa Lehr kommen etwas spröder, entwickeln ihr Appeal eher im sirenisierenden Spiel der Lockungen. Das geschieht mit gerade noch abgebremster Direktheit und Verruchtheit, sodass der physische Sprengsatz im angemessen stilisierten Rahmen bleibt. An den Reibungen zwischen rauen und deklamierten Passagen hört man, wie viele Fragen hinter Glass‘ von den Hofer Symphonikern subtil gestalteten Repetitionen stehen. Vielleicht stammt der Eindruck davon, dass Krause in sein Kafka-Projekt auch jene Obsessionen des Alten Prag aufnahm, die man eher in Gustav Meyrinks esoterischen Roman-Grotesken findet als bei Kafka.
Deshalb gibt es in den zwischen koboldartiger Getriebenheit und popanzartigen Attitüden springenden Erotikphantasien am Theater Hof immer wieder Momente, welche an ganz heutige Tendenzen von Verdrängung und Verängstigung rühren. Von Kafkas albtraumartiger Hellsicht weiß man. Es ist nicht das einzige Verdienst dieser stilisierten und deshalb zutiefst beeindruckenden Realisierung, dass sie Kafkas Pessimismus und dessen aktuelle Relevanz in packenden Bildern verdichtet. Den Youtube-Stream vom 16. Juli ab 19.30 bis 18. Juli sollte man sich nicht entgehen lassen.