Szene aus "Der große Gopnik"

Der ewige Stalin

Viktor Jerofejew: Der große Gopnik

Theater:Theater Freiburg, Premiere:13.04.2024 (UA)Vorlage:nach dem gleichnamigen RomanRegie:Eike WeinreichKomponist(in):Nikolas Kuhl

Wie ein Großessay von 600 Seiten auf die Bühne kommt: Eike Weinrich inszeniert in Freiburg die Uraufführung von Viktor Jerofejews Roman „Der große Gopnik“. Es sind starke Szenen über das schwierige Leben in Russland, aber auch viel Text.

Über allem thronen zwei riesige plumpe Gipsstiefel ohne Rumpf und Kopf, jederzeit bereit, das Leben unter ihnen zu zerquetschen. Sie stehen für die Fortzeugung der unseligen Verbindung von Macht und Gewalt in der russischen Geschichte, deren aktuelle Verkörperung dem jüngsten Roman von Viktor Jerofejew den Namen gegeben hat: „Der große Gopnik“ ist eine sehr konkrete Anspielung auf Wladimir Putin, der sich von einem kleinen Ganoven aus prekären Verhältnissen zum größenwahnsinnigen Herrscher in bester, das heißt schlechtester zaristischer Tradition entwickelt hat.

Beim Schauspieler Martin Hohner ist er am Theater Freiburg ein schmaler Mann mit beschränkten geistigen Fähigkeiten, der sich als gehänseltes und geschlagenes Kind inszeniert und von der totalen atomaren Zerstörung des Westens träumt. In ihm wohnt der Kleine Nächtliche Stalin, den er in einer Banja trifft: Die Kostümbildnerin Bianca Deigner hat Holger Kunkel in der perfekten Maske des Diktators und Massenschlächters mit einem grotesken Riesenphallus ausgestattet, während er über russische Größe schwadroniert und den Großen Gopnik dabei ziemlich klein aussehen lässt.

Ein Mann in blauen Anzug und eine Frau in weißem Kleid sitzen Hände haltend auf der Bühne vor einer Projektion von einer Skulptur mit vielen Gesichtern.

Wie Leben im Angesicht von Machtmissbrauch, diese Frage stellt das Theater Freiburg mit „Der große Gopnik“. Foto: Laura Nickel

 

Theater über verlockende Macht in Russland

In solchen Szenen liegt die Stärke von Eike Weinrichs fast dreistündiger Inszenierung des Theaterstücks, das der Autor selbst aus seinem 600 Seiten umfassenden Werk destilliert hat: in der sarkastischen Zuspitzung der Absurditäten und Widersprüche russischer Mentalitäten und Verhältnisse. Auf der einen Seite findet sich der von Thieß Brammer mit metallischer Diktion gegebene Autor, der die „gute“, die kritische Seite der russischen Intelligenz verkörpert. Die wurde seit jeher verfolgt, eingekerkert, ins Exil getrieben und ermordet – wie die Slawistin Elisabeth Cheauré, Leiterin des Freiburger Zwetajewa-Zentrums und Kooperationspartnerin des Auftragswerks, im Programmheft darlegt.

Doch diese Intelligenzija geriet immer auch in die Nähe der Macht, ließ sich von ihren Verlockungen korrumpieren. Auch Jerofejews Autor erliegt ihr am Ende, im Verbund mit seiner Frau Polina (Angela Falkenhan), die sich dem Großen Gopnik unverblümt als Mitarbeiterin andient. Konsequent als Oppositioneller agiert stattdessen Martin Müller-Reisinger als Boris (Nemzow), der dafür (wie in der Wirklichkeit) mit dem Leben bezahlt.

Auf der anderen Seite agieren die Helfer und Helfershelfer des Großen Gopnik, sein Assistent mit und ohne Bart und der Gutmütige Deutsche, eine herrliche Persiflage auf alle Putin-Versteher hierzulande, insbesondere natürlich den ehemaligen Kanzler. Eine schillernde Figur ist Janna Horstmanns Schwester O., Expertin für russische Pornographie, die in einer komplett schrägen Szene Liebe zu dritt machen will.

Zwei Personen in Grau und Violett stehen zwischen Vorhängen und schauen durch eine Art Fenster.

Die Bühne von Bettina Mayer am Theater Freiberg folgt genau den Angaben von Jerofejews Text. Foto: Laura Nickel

 

Die Gegenwart bestätigt die Angst

Bettina Meyers aufwändiges Bühnenbild hält sich ziemlich exakt an die Vorgaben des Autors, wie auch der Text fast ungekürzt vom Blatt gespielt wird. In der Mitte der Drehbühne eine breite Empore mit mehreren Stufen, auf denen die Statisterie des Theaters ganze Arbeit im Liegen, Aufstehen und wieder Hinfallen leistet, rechts und linke davon die Kabinette der Bücherwelt und der mit goldenen Vorhängen ausgestatteten Staatsmacht.

In einer der besten Szenen des Abends, die auf das Jahr 2000 zurückblickt, prallen alle Positionen aufeinander: Der Papa des Autors, ein strammer Stalinist, prognostiziert dem Land unter dem Großen Gopnik eine rosige Zukunft. Seine bei Laura Palacios bestens aufgehobene Mama sieht hingegen hellseherisch die Katastrophe schon kommen.

Eine Projektion eines riesigen Auges, davor liegen mehrere Personen flach auf der Bühne.

Auch die Statisterie muss alles geben am Theater Freiburg. Foto: Laura Nickel

 

Ein Essay auf der Bühne in Freiberg

In diesem Tohuwabohu blitzt die Farce auf, als die „Der große Gopnik“ vor allem gemeint ist. Wunderbar ist auch die Episode um das Märchen vom Kolobok, eines zum Leben erweckten Teigkloßes, der von einer Füchsin (= der Westen) aufgefressen wird. Doch angesichts des Ukraine-Kriegs sind deren Mittel zugleich begrenzt. Das macht sich vor allem nach der Pause bemerkbar. Die Monologe des Autors werden länger, die essayistische Grundstruktur des Romans setzt sich gegenüber allen anerkennenswerten Bemühungen der Regie um den Einsatz theatraler Mittel durch.

Doch was wiegt ein solcher Einwand gegen die Präsenz des echten Autors? Viktor Jerofejew verneigte sich am Ende vor dem toll agierenden Ensemble mit der Bemerkung, jetzt habe er selbst erst die russische Seele verstanden. Na dann.