Foto: Elementartheater? Anna El-Khasem (Schneeflöckchen) mit Günter Schanzmann (hier Sonnengott, vorher auch mal Väterchen Frost) © Wilfried Hösl
Text:Klaus Kalchschmid, am 27. Juni 2018
Drei Stunden lang wird in der langgezogenen und komplett bespielten Reithalle das Sitzfleisch des Publikums stärker gefordert als im Bayreuther Festspielhaus: Ob schlichte Holzbänke, auf denen man dicht gedrängt an Biertischen zu Beginn mitfeiern und (echten) Wodka trinken darf, der nackte Fußboden um eine immer wieder aufwirbelnde Schneelandschaft oder schräge, harzige Holzstämme: Wenn sich das Musiktheater-Kollektiv HAUEN-UND-STECHEN bei der Festspiel-Werkstatt der Bayerischen Staatsoper Rimsky-Korsakows Oper „Das Schneeflöckchen“ vornimmt, dann ist nicht nur einiges geboten, das Ganze findet auch mit dem und im Publikum statt. Da reicht die schöne Märchenhandlung von der Schneeflocke nicht mehr hin, die von allen Männern begehrt wird und selbst doch nicht weiß, was Liebe ist, sich am Ende doch in den Dreistesten von allen verguckt und damit sich und den Geliebten auslöscht.
Stattdessen beginnt es draußen mit einer Mittsommer-Prozession, bei der symbolisch Schnee fällt und der Konzertchor der Schule für Chorkunst München auf Russisch singt. Im Saal herrscht dann Dunkelheit, die letzten (auch menschlichen) Glühwürmchen tanzen und wir dürfen hinter Gaze das erste Mal Anna El-Kashem in der Titelpartie hören: mit einem zauberischen, keuschen Sirenengesang. Wann immer sie später singen wird, bleibt die Zeit stehen, interessiert nichts mehr außer diesem zarten Wesen, dieser so feinen und doch lyrisch gehaltvollen Stimme.
Da können sich die anderen noch so anstrengen und dem Affen Zucker geben mit allerlei Geschrei und Akrobatik des über die Tische Sich Werfens und Wälzens, mit manchmal zäh Improvisiertem oder wüst Choreographiertem. Zar Berendej (ein mächtig viril auftrumpfender Tenor: Long Long) hat immer wieder seinen großen Auftritt, die Frühlingsfee der Gina-Lisa Maiwald besitzt so gar nichts Ätherisches, sondern ist immer ein paar Plus-Grade zu laut, zu hitzig, zu hysterisch. Aber das hat System, macht aus Misgir (Thorbjørn Bjørnsson) einen hyperaktiven Wilden, der seine Triebe nicht in den Griff kriegt, die Verlobte in die Taiga schickt und mit allen Mitteln versucht die Schneeflocken zu fassen, während Vater Frost (der 82-jährige Günter Schanzmann) einen herrlich vitalen Greis mimen darf und Oleg Dvydov als Bojar Bermjata wohltuend zurückhaltend agiert.
Großes leistet ein kleines Orchester aus fünf Streichern, Saxophon, Tuba/Posaune, Akkordeon, Schlagzeug und Klavier. Rimski-Korsakows Partitur, die im Original dreieinhalb Stunden dauert und hier auf geschätzt eine Stunde verdampft ist, wird in keinem Moment Gewalt angetan, vielmehr entfaltet sie so einen ganz besonderen Reiz, klingt es mal nach Zigeunerkapelle, mal nach russischem Tanzboden. Noch in der Reduktion oder bei versprengen Akkorden und Rhythmen, die schon mal ins 21. Jahrhundert zielen können, verströmt die Musik eine ähnliche Magie wie sie das Schneeflöckchen in sich trägt.
Wenn es heißt: „So und jetzt müssen wir leider unsere Sopranistin opfern“, denkt man leider zu Unrecht: „Ah, das Finale!“ Denn nun weitet sich das Geschehen in den Weltraum und noch einmal darf die allgegenwärtige Kamera nah an die Darsteller ran, wird alles auf einen großen Gazevorhang projizieren, diesmal sehr witzig und echt wirkend das Geschehen in der Schwerelosigkeit einer Raumkapsel. Am Ende klettern alle durch eine Feuerschutztür nach draußen; nur kurz leuchten die Stufen einer der drei kleinen Leitern noch rot auf. Doch wie heißt es so schön am Ende aller Märchen: „Und wenn sie nicht gestorben sind…“